Die weißen Vögel sieht man schnell, doch da sind noch andere

Peter van der Welle, Robeco
Peter van der Welle /Bild: Robeco
Anleger sollten vorsichtig sein, denn die Technologiebegeisterung am Aktienmarkt wird der wirtschaftlichen Realität nicht mehr gerecht. Die Konjunkturdaten und das Abschneiden der verschiedenen Anlageklassen stehen im Widerspruch. Die unter anderem stark vom Thema Künstliche Intelligenz (KI) getriebene positive Aktienmarktdynamik gilt es, zu hinterfragen. Wir mahnen zur Geduld.
Aktien werden in einer engen Kursspanne gehandelt, wie es sie seit der Technologie-Blase im Jahr 2000 und der Corona-Krise im Jahr 2020 nicht mehr gegeben hat. Praktisch die gesamte Marktentwicklung entfällt auf die Technologieriesen. Vor allem das Thema Künstliche Intelligenz (KI) hat die Fantasie der Anleger beflügelt und die Aktienkurse der „Big Tech“-Firmen in die Höhe getrieben.
 
Die Konjunkturindikatoren deuten jedoch weiter darauf hin, dass sich die Welt in einer späten Phase des Konjunkturzyklus befindet, die wahrscheinlich im kommenden Jahr 2024 in einer Rezession münden wird. Diese widersprüchliche Situation könnte Anleger verunsichern und hat unser Multi-Asset-Team zu einer vorsichtigeren Haltung in den Portfolios veranlasst.
 
Nach einem miserablen Jahr 2022 mit aggressiven Zinserhöhungen und steigenden Diskontierungssätzen – was die Wertentwicklung aller Anlageklassen beeinflusste – haben Anleger intensiv nach einer positiven Perspektive Ausschau gehalten.

Starke Konzentration der Wertentwicklung

Ihre Hoffnungen wurden belohnt, als der Evolutionssprung bei Sprachmodellen wie ChatGPT in den Mittelpunkt rückte. Im Jahr 2022 war das relative Abschneiden von Technologiewerten gegenüber dem breiten Index eng mit der Entwicklung der US-Realrenditen verbunden. Im bisherigen Jahresverlauf zeigt sich jedoch ein völlig anderes Bild, da die relative Entwicklung der Technologieaktien den negativen Auswirkungen höherer Realzinsen klar widerstanden hat. Zudem haben die großen US-Technologietitel den S&P 500 (ohne Technologiesektor) sogar um beeindruckende 50 Prozent übertroffen. Ohne die Technologieriesen hätte der S&P 500 im gleichen Zeitraum nur um magere 1 Prozent zugelegt.
 
Diese Zweiteilung zwischen den großen Technologiewerten Amazon, Apple, Microsoft, Meta (Facebook) und Google einerseits sowie den übrigen im S&P 500 vertretenen Unternehmen andererseits ist in der nachstehenden Grafik zu sehen. Diese starke Konzentration der Wertentwicklung an den Aktienmärkten ist bemerkenswert.

Die Perspektive zählt

Es kann durchaus sein – wie die jüngste Entwicklung im Big-Tech-Bereich nahelegt –, dass KI zum Höhenflug ansetzt und einen tiefgreifenden Wandel in allen Wirtschaftssektoren auslöst. Wenn die rasche Verbreitung von KI-Technologien zu einem positiven Angebotsschock führt, der die Produktivität steigert und zu sinkenden Inflationsraten führt, könnte die Wertentwicklung der nicht dem Technologiesektor zugehörigen Titel im S&P 500 Index bald nachziehen.
 
Beim Investieren kommt es jedoch auf die Perspektive an, und man kann die langfristigen leicht mit den zyklischen Aussichten verwechseln. Es war der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Robert Solow, der die berühmte Bemerkung machte, dass er zwar überall Computer sehe, sie sich aber nicht in den Produktivitätsstatistiken niederschlagen. Das Tempo der Ausbreitung von Technologie hat sich zwar mit dem Eintritt in das Zeitalter der Digitalisierung erhöht, könnte aber immer noch enttäuschen.
 
Obwohl die stark vom Thema KI getriebene positive Aktienmarktdynamik noch länger anhalten könnte, verdüstert sich der zyklische Hintergrund in unserem Basisszenario. Dies deutet darauf hin, dass wir uns in einer späten Phase des Konjunkturzyklus befinden, die 2024 in eine Rezession münden könnte.
Man sieht, was man sehen will
 
Die starke Dynamik des KI-Themas erinnere ihn an die weißen Vögel in M.C. Eschers berühmter Lithographie „Zwei Vögel“ von 1938, die unten abgebildet ist. Die weißen Vögel fallen schnell ins Auge (und beschäftigen die Fantasie). Doch bei näherem Hinsehen erscheint ein identischer Vogel mit deutlich dunklerem Gefieder symmetrisch aus dem Hintergrund und fliegt in die entgegengesetzte Richtung
Es gibt noch andere bemerkenswerte Widersprüche auf Ebene der Gesamtwirtschaft und an den Märkten neben der starken Konzentration der Wertentwicklung des S&P 500 seit Jahresbeginn.
 
Nehmen wir zum Beispiel die Divergenz zwischen den Umfragedaten von Verbrauchern und Produzenten über die Entwicklung der Wirtschaft und den sogenannten harten Konjunkturdaten Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Einzelhandelsumsatz. Der bekannte ISM-Indikator für das Verarbeitende Gewerbe deutet nun schon seit sieben Monaten in Folge auf eine Rezession im Verarbeitenden Gewerbe hin. Während dieser Index die Schwankungen in der Wirtschaftstätigkeit in der Regel gut abbildet, hat sich die Konjunkturlage in den USA insgesamt kaum verändert und das BIP ist in den letzten beiden Quartalen weiter gestiegen. Ein ähnlicher Trend zeichnet sich bei den europäischen Makrodaten ab, auch wenn die Eurozone im bisherigen Jahresverlauf eine Rezession weitaus knapper vermieden hat.

Kaufrausch nach Corona

Ein großer Teil davon geht auf die 2,5 Billionen US-Dollar schweren Corona-Konjunkturfonds zurück, die in den USA zu einem nicht nachhaltigen Kaufrausch geführt haben. Hauptursache dafür ist, aus unserer Sicht, die Gewöhnung der US-Verbraucher an einen (übermäßig) ausgedehnten Konsum begleitet durch die enormen staatlichen Unterstützungspakete nach der Pandemie.
 
Die Beziehung zwischen den vorlaufenden Konjunkturindikatoren und der Realwirtschaft ist zwar nicht zusammengebrochen. Doch die Verzögerungen könnten länger als üblich dauern, da sich der Konsum unerwartet widerstandsfähig zeigt und Verbraucher ihre Ausgaben beibehalten, obwohl das reale Einkommenswachstum im letzten Jahr zurückgegangen ist. Doch offenbar ist diese Stärke am Schwinden. So zeigen Kreditkartendaten, dass die US-Verbraucher überfordert sind, und der CEO von Walmart stellte Anfang des Jahres fest, dass Verbraucher „nachdenklicher und kritischer“ geworden sind. Die Einzelhandelsdaten aus dem ersten Quartal 2023 verdeutlichen: US-Verbraucher haben bereits begonnen, billigere und weniger ausgefallene Produkte zu kaufen.
 
Steigt die Preiselastizität der Nachfrage privater Haushalte, stellt das ein Problem für die Preissetzungsmacht und die Gewinne der Unternehmen dar. Es gibt jedoch Bereiche, die davon unberührt sind. Während das Gesamtvolumen der Einzelhandelsausgaben abgeflacht ist, zeigen die Ausgabenmuster eine Kluft zwischen den Einkommensklassen. So ist die weltweite Nachfrage nach (außergewöhnlichen) Luxusgütern nach wie vor stark.

Zweiteilung bei Rohstoffen versus Aktien sichtbar

Eine weitere Zweiteilung ist auf Ebene der verschiedenen Anlageklassen zu beobachten: Die Entwicklung von Rohstoffen und Aktien spiegelt offenbar unterschiedliche Perspektiven der Weltwirtschaft wider. Zwar sind beide risikobehafteten Anlagen anfällig für Wendepunkte im Konjunkturzyklus sind und normalerweise positiv korrelieren. Jedoch befinden sich Rohstoffe in einem Bärenmarkt und sind im bisherigen Jahresverlauf um 10 Prozent gefallen, während der MSCI AC World im gleichen Zeitraum um 7,9 Prozent gestiegen ist.
 
Ein weiteres rezessives Signal von den Rohstoffmärkten liefert die Preisrelation zwischen Kupfer und Gold, ein grober Indikator für das zyklische Wachstum. Sie tendiert im bisherigen Jahresverlauf nach unten und steht nun eindeutig nicht mehr in Einklang mit den realen langfristigen Anleiherenditen und der Aktienmarktentwicklung. Darüber hinaus ist ein im historischen Vergleich extremes MOVE/VIX-Verhältnis zu beobachten. Dabei scheinen die Aktienoptionshändler ungewöhnlich zuversichtlicher gegenüber ihrer Anlageklasse zu sein als ihre Kollegen im Anleihenbereich, was eine weitere Zweiteilung darstellt.

Relation von Signalen zu Rauschen

Was ist nun unter dem Strich von all dem zu halten? Unserer Ansicht nach deutet das derzeitige Ausmaß der Zweiteilung darauf hin, dass wir uns in einer Situation befinden, in der das Verhältnis von aussagefähigen Signalen zu bloßem Rauschen gering ist. Offenbar sind Anleger der Meinung, dass sie über genügend Indizien verfügen, um sich entweder für das Szenario einer Hausse oder einer Baisse zu entscheiden. Das führt zu den deutlich auseinanderklaffenden Entwicklungen der einzelnen Anlageklassen.
 
Wie bei Eschers Lithografie kann man in der aktuellen Umgebung nur den Vogel sehen, den man sehen will, während der andere leicht im Hintergrund verschwindet. Angesichts dieser starken Konzentration der Wertentwicklung am Markt sollten Multi-Asset-Investoren eine Atempause einlegen, um das Gesamtbild zu erfassen.
Peter van der Welle, ist Strategieexperte für Sustainable Multi-Asset Solutions beim niederländischen Asset Manager Robeco.

Im Artikel erwähnte Wertpapiere

Alphabet Class C 154,82 -3,95%
close

Populäre Aktien

Amazon.com 167,98 0,70%
close

Populäre Aktien

Apple 202,60 2,09%
close

Populäre Aktien

Meta Platforms (ex facebook) 429,65 1,69%
close

Populäre Aktien

Microsoft Rg 391,75 1,23%
close

Populäre Aktien

UC S&P 500 5.460,78 N.A.
close

Populäre Aktien

Walmart Rg 64,60 -0,89%
close

Populäre Aktien