Wie würden die Emerging Markets eine „normale“ Rezession verkraften?

Gillian Edgeworth, Wellington Management
Gillian Edgeworth / Bild: Wellington Management
Das globale Wachstum hat sich bisher besser gehalten als erwartet. Könnten die Industrieländer trotzdem noch in eine Rezession abrutschen? Und wenn ja – welche Auswirkungen hätte dies auf die Emerging Markets?
 
Meines Erachtens ist die Entscheidung noch nicht gefallen, aber insgesamt halte ich eine Fortsetzung des derzeit schwachen Wachstumsmusters in den Industrieländern für wahrscheinlicher. Sollten sie aber in eine „normale“ Rezession (hier definiert als zwei bis vier Quartale mit einem Rückgang gegenüber dem Vorquartal) abrutschen, dürften die meisten Emerging Markets in der Lage sein, diesen Abschwung relativ gut zu überstehen.
 
In einem solchen Szenario dürften die Zentralbanken der Emerging Markets jedoch meiner Meinung nach ihre Zinssenkungen beschleunigen und sich dabei weniger auf die Stabilität und Stärke ihrer Währungen konzentrieren. Im Folgenden erläutere ich den Hintergrund meiner Einschätzung und skizziere mögliche Konsequenzen für Anleger in Emerging-Markets-Anleihen.

Anhaltend schwaches Wachstum wahrscheinlich, Rezession in den Industrieländern bleibt ein Risiko

Auch wenn sich die Weltwirtschaft in den letzten Quartalen widerstandsfähig gezeigt hat, dürfte das Wachstum bestenfalls schwach bleiben. Wir haben den stärksten und schnellsten Zinserhöhungszyklus seit Jahrzehnten in Kombination mit einer quantitativen Straffung erlebt. Ob es dem Finanzsystem gelingen kann, beides gleichzeitig zu verkraften, wurde noch nie auf die Probe gestellt. Das Kreditwachstum verlangsamt sich nun in den USA und Europa, während der Konjunkturzyklus durch den zunehmenden Rückgang der Ersparnisse der privaten Haushalte eine Stütze verliert. Darüber hinaus ist es unwahrscheinlich, dass Konjunkturmaßnahmen in China als Reaktion auf die stagnierende Wiedereröffnung der Wirtschaft eine ebenso starke Wirkung entfalten wie in der Vergangenheit.
 
Zwar neigen Wirtschaftsmodelle dazu, das Risiko einer Rezession zu überschätzen (unter anderem weil der Dienstleistungssektor unterrepräsentiert ist), doch zeigt die Geschichte, dass weiche Landungen eher die Ausnahme sind. Mehrere Indikatoren deuten darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit negativen Wachstums in den kommenden Quartalen zunimmt. Unsere Analyse zeigt beispielsweise Folgendes:
  • In der Vergangenheit dauerte es bei einer Inversion der US-Zinsstrukturkurve durchschnittlich 13 Monate, bis die Konjunktur ihren Höhepunkt erreichte. Die Zinsstrukturkurve ist in den USA seit 11 Monaten invers.
  • Es gibt sehr zaghafte Anzeichen für eine Abschwächung am Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit in den USA beginnt ganz allmählich zu steigen. Die Geschichte zeigt, dass die Arbeitslosigkeit in den Fällen, in denen sie so niedrig war wie heute, zwölf Monate später in der Regel um ein bis zwei Prozentpunkte höher lag.

Bislang haben die Emerging Markets (mit Ausnahme Chinas) die Zinserhöhungen sowohl der heimischen Notenbanken als auch der Zentralbanken in den Industrieländern relativ gut verkraftet. Wie in den Industrieländern ist das Wachstum in den meisten EM-Ländern schwach und teilweise sogar rückläufig, aber die Arbeitslosigkeit ist niedrig und die Inflation gesunken. Nachdem die Zentralbanken der Emerging Markets der US-Notenbank um bis zu zwölf Monate voraus waren, haben sie ihre Zinserhöhungszyklen inzwischen weitgehend abgeschlossen und teilweise bereits Zinssenkungen eingeleitet.

Was würde eine „normale“ Rezession in den Industrieländern für die Emerging Markets bedeuten?

Die Emerging Markets haben in den letzten drei Jahrzehnten harte Anpassungen durchlaufen. Seit der Einführung der Anlageklasse haben sie aber wenig oder gar keine Erfahrung mit einer normalen Rezession in den Industrieländern gemacht. Die globale Finanzkrise und COVID waren weitaus größere Schocks, und sowohl beim sogenannten „Taper Tantrum“ des Jahres 2013 als auch beim Einbruch der Rohstoffpreise in den Jahren 2014 und 2015 wurden die Emerging Markets aufgrund ihrer hohen Defizite und ihrer Abhängigkeit von Rohstoffen stark in Mitleidenschaft gezogen. Sollten die Industrieländer diesmal eine eher normale Rezession erleben, wird dies zweifellos negative Auswirkungen auf die Emerging Markets haben. Ich denke aber, dass diese für die meisten eher unangenehm als unüberwindbar sein werden.
 
Im Falle einer Rezession in den Industrieländern gehe ich davon aus, dass die Emerging Markets die Entwicklung in den Industrieländern weitgehend widerspiegeln werden, d.h. das Wachstum wird sich weiter verlangsamen und möglicherweise schrumpfen, und die Arbeitsmärkte werden eine stärkere Korrektur als bisher durchlaufen. Allerdings sollte man das Ausmaß der Preisschwankungen bei Rohstoffen im Auge behalten, wobei die wichtigsten Rohstoffexporteure Lateinamerikas und Südafrikas am anfälligsten sind.

Wie könnten die politischen Entscheidungsträger in den Emerging Markets darauf reagieren?

Insgesamt haben die Emerging Markets den stärksten Zinserhöhungszyklus der letzten zwei Jahrzehnte erlebt. In einem Szenario, in dem die USA und die Eurozone im Laufe dieses Jahres oder in der ersten Jahreshälfte 2024 in eine Rezession abgleiten, dürften die Zentralbanken sowohl in den Industrieländern als auch in den Emerging Markets zuversichtlicher werden, dass die Inflation auf ihr Zielniveau zurückkehrt, und mit Zinssenkungen beginnen. Die Zentralbanken in den Emerging Markets werden sich wahrscheinlich schneller umstellen, wenn man bedenkt, wie weit sie ihre Leitzinsen über das neutrale Niveau hinaus angehoben haben.
 
Soweit eine normale Rezession in den Industrieländern den globalen Inflationsdruck verringert, wären die Zentralbanken der Emerging Markets weniger auf ihre Währungen angewiesen, um ihre Inflationsziele zu erreichen, was bedeutet, dass sie eine gewisse Abwertung ihrer Währungen in Kauf nehmen könnten, wenn der US-Dollar stärker wird. Eine solche Anpassung muss nicht zwangsläufig eine Rückkehr zu dem Trend schwacher EM-Währungen des letzten Jahrzehnts bedeuten. Während in den Industrieländern sowohl die Zentralbankbilanzen als auch die Haushaltsdefizite stark ausgeweitet wurden, waren die ausländischen Kapitalzuflüsse in die Lokalmärkte der Emerging Markets deutlich verhaltener.

Wie wirkt sich diese Entwicklung auf die Preise von Vermögenswerten aus?

  • Da wir mit einer Disinflation und Zinssenkungen rechnen, bevorzugen wir ein Durationsengagement in den Emerging Markets. Dabei ziehen wir die zentral- und osteuropäischen sowie die lateinamerikanischen Märkte vor. Obwohl Zinssenkungen in Lateinamerika und Zentral- und Osteuropa den Carry reduzieren werden, dürften die Ausgangslage bei den Leitzinsen, überschaubare Defizite und vorsichtige Zinssenkungen die Währungen stützen.
  • Fremdwährungsanleihen beurteilen wir verglichen mit Lokalmärkten positiv, bleiben aber vorsichtig angesichts der engen Spreads gegenüber den historischen Daten in den Emerging Markets sowie gegenüber Investment-Grade- und High-Yield-Anleihen in den Industrieländern.
Gillian Edgeworth ist Macro Strategist bei Wellington Management.
Copyright 2023 Wellington Management Europe GmbH. Alle Rechte vorbehalten. WELLINGTON MANAGEMENT FUNDS ® ist eine eingetragene Dienstleistungsmarke der Wellington Group Holdings LLP.
Wellington Management Europe GmbH. Vertretungsberechtigter: Susanne Ballauff; Verantwortlicher: Marco Näder, kontaktierbar am eingetragenen Sitz: Wellington Management Europe GmbH, Bockenheimer Landstraße 43-47, 60325 Frankfurt am Main. Tel.: +49-69-677761-500, E-Mail: Germany-Austria@wellington.com, Umsatzsteuer-Identifikationsnummer: DE 326304943, Handelsregister des Amtsgerichts Frankfurt am Main: HRB 115460.
Die Wellington Management Europe GmbH ist von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zugelassen und wird von dieser reguliert.
Nur zur Verwendung durch professionelle Investoren und Finanzintermediäre. Dieser Inhalt ist nicht für Privatanleger geeignet.