Manfred Schmid / Bild: BBAG/Killius
Was uns noch vor wenigen Wochen völlig unmöglich erschien, ist inzwischen Realität geworden: Krieg mitten in Europa. Der Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine bringt nicht nur unendlich viel Leid über die vom Krieg betroffenen Menschen, er hat auch die Aktienmärkte stark gebeutelt. Am Tag nach dem Überfall fielen die Kurse im DAX um fast 5 Prozent. Mit Einsetzen der Sanktionen durch die westlichen Länder wurden peu a peu russische Aktien, sowie Fonds und ETFs mit Beteiligung russischer Aktien vom Handel ausgesetzt, weil die Abwicklung aufgrund der Sanktionen nicht mehr möglich war. Im ersten Quartal 2022 wurden an der Börse München fast so viele russische Aktien gehandelt wie im ganzen Jahr 2021, weil viele Investoren sich vorzeitig von den Titeln trennen wollten – andere vielleicht noch auf rasche Gewinne spekuliert hatten. Jetzt dürften sie für längere Zeit wie Zement in den Depots liegen. In der Regel liegt Russland im Länderranking der meistgehandelten Aktien an der Börse München ungefähr auf Rang 16, gleichauf mit Israel oder Spanien (sowohl nach der Anzahl der Trades als auch nach Orderbuchvolumen).

Länderrisiken berücksichtigen

Bedeuteten diese erzwungenen Maßnahmen einen kurzfristigen und von den meisten Investoren wohl zu verschmerzenden Wandel der Aktienwelt, so dürften die Auswirkungen des Ukraine-Krieges mittel- und langfristig bedeutender sein. Die Ukraine ist ein wichtiger Rohstofflieferant, nicht nur Weizen und Dünger, auch viele Industriemetalle werden dort abgebaut. Von Russland als der „Tankstelle der Welt“ gar nicht zu reden. Investoren müssen bei der Wahl ihrer Anlage nicht nur das wirtschaftliche Potenzial von Ländern, sondern auch das politische (Un-)Vermögen mit einbeziehen. Trotz einer größtmöglichen Diversifizierung zur Risikominderung gilt es, Länderrisiken richtig einzuschätzen. An der Börse München steigt der Auslandsanteil stetig: 2021 kamen 69 Prozent aller gehandelten Aktien nach Orderbuchvolumen aus dem Ausland, nach Anzahl der Orders waren es sogar 77 Prozent! An erster Stelle lagen die USA, auch Aktien aus Kanada und Norwegen erfreuten sich großer Beliebtheit. Chinesische Aktien, oftmals wie Alibaba auf den Kaimaninseln „beheimatet“, sind ebenfalls stark gefragt. Aktuell werden 7.066 Aktien aus dem Aus- und 599 aus dem Inland gehandelt – die Auswahl ist also groß und das Länderspektrum weit!

Nachhaltigkeit neu definieren

Nachhaltigkeit, das sehen wir beispielsweise bei den gehandelten ETFs, wo Produkte mit SRI, ESG oder Clean Energy-Themen regelmäßig Spitzenplätze belegen, spielt eine große und zunehmende Rolle bei Investoren. Aber auch hier hat der Krieg neue Denkanstöße gesetzt: Kann ein Unternehmen nachhaltig agieren, wenn es in einer Diktatur angesiedelt ist? Müssen Rüstungsunternehmen, die Ländern die Verteidigung gegen Aggressoren ermöglichen – und Aggressoren, Länder zu überfallen – neu bewertet werden? Können wir kurz- und mittelfristig auf Atomkraftwerke verzichten? Ist einheimische Kohle Gas aus Katar vorzuziehen? So schwer die Entscheidung im Einzelfall auch sein mag, die Anlegerin und der Anleger treffen zumindest die Entscheidung selbst und aus eigenen Stücken und aus eigener Abwägung.

Heimische Werte

Auch wenn wir dem Home Bias, also dem Investieren insbesondere in heimische Unternehmen, die man besser einzuschätzen glaubt, nicht das Wort reden wollen, unter den fast 600 Titeln deutscher Unternehmen gibt es sehr viele Perlen, versteckte und weniger versteckte Champions, interessante Nebenwerte, verlässliche Dividendenzahler. Genauer angesehen hat sich den deutschen Markt das Going-Public-Magazin. Gemeinsam mit AfU Research erstellten sie eine Studie zur Deutschland AG. 539 Titel beleuchten sie dabei näher, die überwiegend in der Dax-Familie, im sonstigen Prime und General Standard sowie im „Freiverkehr Premium“ – also den Segmenten m:access der Börse München und Scale der Deutschen Börse –  gelistet sind. In der Summe verzeichnet die börsennotierte Deutschland AG zum Jahreswechsel 2021/22 immerhin eine Bilanzsumme von 7,4 Billionen Euro, 1,34 Billionen Euro Eigenkapital und der kumulierte Börsenwert beläuft sich auf 2,69 Billionen Euro! 25 Werte werden außerdem im Ausland gehandelt – der derzeit bekannteste dürfte die BioNTec AG aus Mainz sein – hinzu kämen außerdem noch 212 Werte des Freiverkehrs jenseits m:access und Scale und so kommt man auf 776 Aktien und einen Börsenwert von 2,80 Billionen Euro. Das entspricht 80 Prozent des deutschlandweiten BIP.

Der Mittelstand behauptet sich

Bemerkenswertes kommt hervor, wenn man die durchschnittlichen Geschäftszahlen näher ansieht. GoingPublic hat die Jahre 2019 und das erste Pandemiejahr 2020 miteinander verglichen. Die 66 Unternehmen in m:access und 42 in Scale, also der börsennotierte Mittelstand, schlugen sich nach Umsatz und Jahresüberschuss trotz Pandemie besser als die großen DAX-Unternehmen: Während jene Umsatzeinbußen zwischen 5,5 Prozent (DAX) und 21,7 Prozent (MDax) sowie 6,6 Prozent (SDax) verzeichneten, waren es beim „Freiverkehr Premium“ 5,8 Prozent, der Jahresüberschuss ging jedoch nur um 6,2 Prozent zurück, während es im DAX 49 Prozent, im MDax 44,7 Prozent und im SDax sogar 61,10 Prozent waren! Die KMUs konnten sich also trotz Pandemie wesentlich besser behaupten als die Schwergewichte, sie haben Umsatzrückgänge besser verkraftet. Ob diese Resistenz auch in diesen schwierigen Zeiten anhält, bleibt abzuwarten, denn durch den Krieg, die Sanktionen,  die stark steigenden Rohstoffpreise und die noch längst nicht überwundene Pandemie wird die Lage nicht wirklich leichter. Trotzdem, dem Anleger bieten sich auch im eigenen Land interessante Chancen – vielleicht ist es an der Zeit zu überprüfen, ob sich diese im Depot ausreichend widerspiegeln und ob die Länderrisiken noch weiterhin überschaubar sind.
Dieser Artikel erschien zuerst im Nebenwerte-Journal

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