ESG-Ratings: Darauf sollten Anleger achten

Sara Rosner, AllianceBernstein (AB)
Sara Rosner / Bild: AllianceBernstein (AB)
Da sich der Klimawandel auf die Bewertung von Investments auswirkt, entstehen neue Offenlegungspflichten, Erwartungen der Interessengruppen nehmen zu und das Marktbewusstsein wächst. Hierdurch entsteht eine neue Branche, die schnell heranwachsen muss. Bei AllianceBernstein (AB) haben wir uns mit dem Earth Institute der Columbia University zusammengetan, um eine umfassende Überprüfung der bestehenden Anbieter von Klimawandel-Szenarioanalysen und ihrer verschiedenen Ansätze durchzuführen.
Vermögenseigner wollen und müssen die potenziellen Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Portfolios verstehen. AllianceBernstein (AB) arbeitet zusammen mit dem Earth Institute der Columbia University daran, die Analyse von Klimaszenarien zu verstehen, zu verinnerlichen und mit der Zeit zu verbessern. Trotz der kontinuierlichen Verbesserung ist das jedoch ein noch junges Thema, besonders wenn man sich externer Partner bedient. Jeder Anbieter hat eine eigene Herangehensweise an die Daten und Analysen, mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen.

Lücken in der Abdeckung, Daten und Annahmen

Wir wollten Anbieter vergleichen und beurteilten die Klimamodelle von elf Unternehmen zunächst anhand von neun Kriterien. Dabei zeigte sich: Jeder Anbieter hatte Lücken in der Abdeckung von Anlageklassen und Märkten. Zum Beispiel decken einige Unternehmen nur entwickelte Märkte ab, andere beziehen auch Schwellenmärkte mit ein, und keines der Unternehmen bietet eine umfassende Analyse der Frontier-Märkte. Einige Anbieter decken nur Aktien ab, andere befassen sich mit Unternehmens- oder Staatsanleihen. Kein Unternehmen beschäftigt sich mit Optionen, und auch andere Anlageklassen werden nur begrenzt oder gar nicht einbezogen. Obwohl es sich noch um eine sehr junge Branche handelt, sehen wir bereits, dass Anbieter versuchen, Lücken durch Übernahmen und Konsolidierung zu schließen – ein Trend, der sich unserer Einschätzung nach fortsetzen wird.
 
Doch es gibt noch zahlreiche weitere Hürden. So werden Daten, die in jedem Modell verwendet werden, von den zu analysierenden Unternehmen selbst zur Verfügung gestellt – und die Anbieter der Klimamodelle stellen diese lediglich zusammen. Da die meisten Unternehmen nicht verpflichtet sind, ihre Klimadaten offenzulegen – und es keine spezifischen Standards gibt –, ist der Datensatz von vornherein unvollständig und inkohärent. Auch die Tiefe der Offenlegung variiert: Handelt es sich um Daten für eine Geschäftseinheit oder für mehrere Geschäftseinheiten? Außerdem gliedern die offenlegenden Unternehmen ihre Daten auf unterschiedliche Art und Weise – oder sie stellen nur Schlaglichter auf die wichtigsten Faktoren zur Verfügung, anstatt vollständige Informationen zu liefern.
 
Um fehlende Angaben zu kompensieren, verwenden die Anbieter entweder Daten Dritter oder wenden komplexe Annahmen an, die auf Länder-, Sektor- und Branchenentwicklungen basieren. Die Annahmen werden oft nicht offengelegt und können stark variieren. Saubere, standardisierte und gründlich herausgearbeitete Daten sind notwendig, um die Relevanz von Klimawandelmodellen zu verbessern; wo keine Daten verfügbar sind, sollten die Annahmen offengelegt werden.

Modelle, Tiefe, Maßeinheiten

Die Szenarioanalyse-Modelle sind komplex, aber viele Modelle müssen noch ausgefeilter sein, um zuverlässige Ergebnisse zu liefern. Zum Beispiel messen die Modelle das Risiko auf unterschiedliche Weise. Einige betrachten das Geschäft eines Unternehmens nach Branche und Standort und verwenden dann verallgemeinerte Informationen, um diese in die potenziellen Auswirkungen zu übersetzen. Andere gehen noch weiter und betrachten nicht nur die Branche oder die geografische Lage, sondern auch das Unternehmen selbst. Dabei wird berücksichtigt, wie sich der Klimawandel auf die Finanzlage auswirken könnte – zum Beispiel durch geringere Gewinnspannen aufgrund höherer Kosten, die CO2-Steuern berücksichtigen, oder auch durch die Frage, wie viele Klimaschutzmaßnahmen bereits ergriffen worden sind.
 
Auch die Analysetiefe ist sehr unterschiedlich. Es ist offensichtlich, dass die Bewertung der Risiken und Chancen des Klimawandels für ein multinationales Unternehmen kompliziert ist. Verschiedene Länder haben unterschiedliche CO2-Preise, Steuern, Märkte oder Reduktionsziele eingeführt, die theoretisch anteilig auf die Vermögenswerte eines multinationalen Unternehmens in diesen Ländern angewendet werden sollten. Die Erfassung dieser Informationen hängt jedoch von der Klarheit und Detailliertheit der Unternehmensangaben ab, und daran mangelt es oft. Da die Anbieter von Klimawandelmodellen nur über begrenzte Ressourcen verfügen, um eingehende Untersuchungen und Verifizierungen auf Emittentenebene durchzuführen, legen unsere Recherchen nahe, dass es zur unkritischen Anwendung bereits kompromittierter Daten kommen kann.

Die Vergleichbarkeit von Ergebnissen unterschiedlicher Anbieter kann ebenfalls schwierig sein. Einige verwenden ein quantitatives Maß für den durch den Klimawandel gefährdeten Wert eines Unternehmens, einige wenige bieten einen Risikograd an (niedrig, mittel, hoch). Wieder andere geben eine Punktzahl an, die Vergleiche zwischen Unternehmen ermöglicht, jedoch ohne größeren Kontext.

Entscheidend sind die Bedürfnisse

Welches Modell ist also das beste? Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es nicht, da dies stark von den Bedürfnissen und Nuancen des Endanwenders abhängt. In der zweiten Phase unserer Analyse baten wir jeden der vier Anbieter, die in die engere Auswahl gekommen sind, je ein Anleihen-, Aktien- und Multi-Asset-Portfolio zu bewerten, um seine Exponierung gegenüber Risiken und Chancen des Klimawandels einzuschätzen. Jeder Anbieter lieferte Bewertungen für physische Risiken sowie für Netto-Übergangsrisiken für jedes Unternehmen.
 
Die Ergebnisse verdeutlichten die Herausforderungen, die diese Art der Modellierung mit sich bringt. Während die Bewertungen des Gesamtportfolios aufgrund von Verwässerung recht ähnlich waren, variierten die Bewertungen für einzelne Positionen und Risiken stark. Jedoch sind die Bewertungen der einzelnen Anlagen im Kontext des Portfoliomanagements und der Portfoliokonstruktion von größter Bedeutung und können einen erheblichen Unterschied bei den Portfolioerträgen ausmachen. Darin liegt unserer Meinung nach der Vorteil von aktiven Investmentmanagern, die nicht nur ihre Wertpapiere gut kennen, sondern sich auch der Besonderheiten jedes der von ihnen verwendeten Szenarioanalyse-Modells bewusst sind.

Fallstudie: First Quantum – physische Risiken

Der Vergleich der Ergebnisse für ein Unternehmen bei verschiedenen Anbietern zeigt die Unterschiede bei den Klimamodellen wohl am anschaulichsten. First Quantum ist ein kanadisches Unternehmen, das weltweit Kupfer- und Goldminen (mit bedeutenden Anlagen in Sambia) betreibt – und erhielt von zwei Anbietern deutlich unterschiedliche Ergebnisse für die Szenarioanalyse.
 
Anbieter A betrachtete zwölf Unternehmensstandorte, als er die physischen Risiken des Klimawandels für First Quantum bewertete. Er ermittelte, dass das Unternehmen bei extremer Kälte um 0,22 Prozent profitieren, bei extremer Hitze jedoch um 2,21 Prozent geschädigt werden würde, was einem physischen Nettorisikowert von –1,96 Prozent entspricht. Anbieter A berücksichtigte keine Auswirkungen von extremem Niederschlag, starkem Schneefall, starkem Wind, Überschwemmungen an der Küste oder tropischen Wirbelstürmen. Im Gegensatz dazu maß das Modell von Anbieter C die physischen Risiken von Küstenüberschwemmungen (–1,13 Prozent), Flussüberschwemmungen (–0,70 Prozent) und chronischen Auswirkungen (–0,28 Prozent). Dabei handelt es sich um langsam eintretende Folgen wie etwa die beobachteten Veränderungen bei den Kosten und der Produktivität von Arbeitskräften bei erhöhtem Hitzestress. Außerdem wurde ein Nutzen aus der Anpassung (+0,55 Prozent) berücksichtigt, sodass der physische Nettorisikowert bei –1,56 Prozent lag. Obwohl jeder Anbieter das Problem aus einer anderen Perspektive betrachtete und unterschiedliche Faktoren bewertete, war der Nettorisikowert einigermaßen vergleichbar.
 
Unsere Portfoliomanager, Analysten und das ESG-Team stellten jedoch fest, dass beide Anbieter die anhaltende Dürre in Sambia nicht in ihre Analyse einbezogen haben. Etwa 90 Prozent der Stromerzeugung in Sambia erfolgt durch Wasserkraft, und es gibt routinemäßige Stromrationierungen, die sich bei anhaltender Dürre nur noch verschlimmern werden. Das ist eine erhebliche Bedrohung für die Geschäftstätigkeit des Unternehmens in diesem Land.

Fallstudie: First Quantum – Übergangsrisiken und Chancen

Die Berechnungen des Netto-Übergangsrisikos zeigten ebenfalls signifikante Unterschiede. Beide Anbieter berücksichtigten direkte Treibhausgasemissionen aus unternehmenseigenen Stromquellen (Scope-1-Emissionen), aber nur ein Anbieter berücksichtigte Emissionen aus zugekauften Stromquellen (Scope-2-Emissionen) und nachgelagerte Emissionen in der Wertschöpfungskette des Unternehmens (teilweise Scope 3). Bei den meisten Unternehmen stammt der Großteil der Treibhausgasemissionen aus Scope 3.
 
Anbieter C, der First Quantum einen Gesamtscore für das Übergangsrisiko von –62,81 Prozent zuwies, verteilte den Score auf verschiedene Elemente seiner Übergangsrisikofaktoren wie etwa Minderung, Scope-Emissionen sowie Nachfragezerstörung und Reaktion. Anbieter A hingegen bemaß das Übergangsrisiko mit nur einem Gesamtscore von –72,35 Prozent. Dieser ermittelte die zugrunde liegenden Elemente des Betriebs- und Geschäftsmodellrisikos, Scope-Emissionen und „einen im Laufe der Zeit global steigenden Preis“ für diese Emissionen, schlüsselte aber weder die Scores in diesen Bereichen auf noch erläuterte er, wie sie zum Gesamtscore für das Übergangsrisiko beitrugen.
 
Die beiden Modelle stimmen auch weniger gut überein, wenn es um die Messung der Chancen durch den Klimawandel geht. Anbieter A betrachtet speziell Unternehmenspatente, um zukünftige Chancen zu messen, und gesteht First Quantum aufgrund fehlender Patente keinerlei potenziellen Nutzen aus dem Klimawandel zu. Im Gegensatz dazu beinhaltet die Bewertung von Anbieter C einen erwarteten Anstieg der Kupfernachfrage um +10,7 Prozent aufgrund der fortschreitenden Umstellung auf Elektrofahrzeuge, und geht von einer Weitergabe der Kohlenstoffkosten im Umfang von 65,6 Prozent aus. Das ergibt eine Gesamtchance von +76,3 Prozent. Beim Vergleich der Gesamtsummen für das Netto-Übergangsrisiko weist Anbieter C einen Netto-Risikowert von +11,9 Prozent zu, gegenüber –2,0 Prozent bei der eingeschränkteren Chancenbewertung von Anbieter A. Ein aktiver Manager mit grundlegenden Kenntnissen über das Unternehmen ist wahrscheinlich in der Lage, diese beiden Bewertungen in Einklang zu bringen, um zu einer angemesseneren Einschätzung des Übergangsrisikos und der Chance zu kommen.

Fallstudie: Woolworths – persönlicher Einblick zählt

Die Bewertungen von Anbietern haben wir zudem mit unseren eigenen Szenarioanalysen vergleichen. Dies geschah anhand von Woolworths, einer australischen Supermarktkette. Unser Team schätzt, dass die physischen Risiken einer Unterbrechung der Lieferkette viel schlimmer sein werden als die Schätzungen der Szenarioanalyse-Modelle von Drittanbietern. Tatsächlich stufte AB das physische Risiko als hoch ein – im Gegensatz zu allen vier Anbietern, die dieses als niedrig bewerteten. Besondere Sorge bereitet uns die Möglichkeit, dass der Klimawandel die Lebensmittelversorgung beeinträchtigt und zu einer hohen Lebensmittelinflation führt. Das könnte wiederum die Regierung veranlassen, die Kapitalrendite für Lebensmittelhändler zu begrenzen, um die Verbraucher zu schützen.
 
Auf der anderen Seite stuften alle Anbieter von Szenarioanalysen das Transformationsrisiko für Woolworths als mittel bis hoch ein und urteilten, dass der Großteil der Kohlenstoffbelastung für die meisten Unternehmen aus den Scope-3-Emissionen fossiler Brennstoffe stammt (innerhalb der Lieferkette eines Unternehmens, etwa bei Kunden). Betrachtet man den Scope 3 genauer, so würde die große Anzahl von Lieferanten und Kunden einer Lebensmittelkette einen überdurchschnittlich hohen Risikowert verursachen. Was diese Modelle jedoch nicht berücksichtigten, war die Möglichkeit des Übergangs durch umweltbewusstere Verbraucher, die klimafreundlichere Produkte, Dienstleistungen und Orte zum Einkaufen suchen, was uns dazu veranlasste, das Übergangs-Klimarisiko für Woolworths als niedrig einzustufen.

Die weitere Entwicklung der Szenarioanalyse-Modelle

Diese Beispiele zeigen, dass die Identifizierung und Quantifizierung von Klimarisiken und -chancen durch Szenarioanalysen ein schwieriges Unterfangen ist, erst recht für ein gesamtes Portfolio. Mit der Weiterentwicklung von Daten und Modellen dürfte sich allerdings einiges ändern.
 
Immer mehr Länder und Institutionen fordern die Einbeziehung von Klimadaten und Szenarioanalysen in die öffentliche Berichterstattung. Die britischen Aufsichtsbehörden beispielsweise führen diese Berichterstattung schrittweise ein, und es wird erwartet, dass sie bis 2025 für in Großbritannien börsennotierte Unternehmen, Pensionskassen und Investmentmanager verpflichtend sein wird. Australien und Neuseeland verlangen bereits, dass Vermögenseigner diese Informationen zur Verfügung stellen. Und dieselben Daten werden allmählich auch für Unternehmensemittenten verlangt. Obwohl die weltweite Investoreninitiative zur Umsetzung der Prinzipen der Vereinten Nationen für verantwortungsvolles Investieren (PRI) die Unterzeichner erst in etwa einem Jahr auf Basis der Einhaltung dieser empfohlenen Praxis bewerten wird, denken wir, dass sie kommen wird.
 
Wir kombinieren die detaillierten Unternehmens- und Sektorkenntnisse unserer Analysten sowie unser umfassendes Engagement für Emittenten in Klimafragen mit den von Drittanbietern verfügbaren Klimarisikodaten. Wir sind überzeugt, dass diese Kombination zu besseren Erkenntnissen führen sollte, als wenn man sich nur auf externe Klimadaten verlässt, und dass sie auch zu besseren Anlageentscheidungen und Berichten für die Kunden führt.
 
Das Verständnis der Diskrepanzen in dieser ersten Generation von kommerziell verfügbaren Szenarioanalysen ist der erste Schritt zur Entwicklung besserer Werkzeuge. Wir erwarten substanzielle Verbesserungen der Modelle und Daten, da Vermögenseigner ihre Investmentmanager zu einer aussagekräftigen und relevanten Berichterstattung drängen, die in die Investmentanalyse einfließt. Unternehmen, die sich frühzeitig in diesem Prozess engagieren, können die Entwicklung besserer Modelle beeinflussen und gestalten und ihre Portfolios und Investoren besser auf die langfristigen Risiken und Chancen vorbereiten, die den Emittenten in den kommenden Jahren durch den Klimawandel entstehen.
Sara Rosner ist Director Environmental Research; Engagement – Responsible
Investment beim Asset Manager AllianceBernstein (AB)
Die hier geäußerten Einschätzungen und Meinungen sind weder Analysen noch Investmentberatung oder Anlageempfehlungen. Sie geben nicht notwendigerweise die Ansichten aller Portfoliomanagementteams von AB wieder und können jederzeit geändert werden.

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