Japans Aktienmarkt erwacht aus Winterschlaf

Moritz Rehmann, DJE
Moritz Rehmann / Bild: DJE
Die Zinsen steigen, in Japan. Eigentlich verkehrte Welt, denkt man an die fallenden Zinsen in Europa und den USA. In Japan jedoch ist man erst jetzt dabei, das seit 2016 andauernde Feldexperiment der Negativzinsen zu beenden. Damit ist die Bank of Japan (BoJ) die letzte der großen Notenbanken, die sich im März 2024 mit der ersten Zinserhöhung seit 17 Jahren von der Nullpolitik verabschiedet hat.
 
Ursprünglich wurden die Zinsen auf null gesenkt, um aus Deflation und Wirtschaftsschwäche zu entkommen. Allerdings hat die Geschichte gezeigt, dass das trotz der Zinspolitik und aller Konjunkturprogramme nicht gelang. Mit der Anhebung der Zinsen in der westlichen Hemisphäre begann jedoch eine massive Talfahrt der japanischen Währung, die zusammen mit den seit der Corona-Pandemie anhaltenden Teuerungsschüben auch die Inflation in Japan auf lange nicht gekannte Höhen brachte und nun erstmals die von der Zentralbank „ersehnte“ Preis-Lohn-Spirale in Gang setzte. Man könnte auch sagen, nachdem das Zuckerbrot des billigen Geldes in Japan nicht gegriffen hat, kommt nun die Peitsche aus Inflation und Yen-Entwertung, die besser zu wirken scheint.

Historisches Hoch nach 34 Jahren wieder erreicht

Ganze 34 Jahre hat der japanische Aktienindex Nikkei gebraucht, um nach den Höhenflügen der 1990er-Jahre das alte Hoch wieder zu erreichen. Japan erlebte in den 1980er-Jahren einen unvergleichlichen Aufschwung mit dem Export von günstiger Hochtechnologie, Konsumgütern und Autos in die westliche Welt. 1981 kam die japanische Selbstbeschränkung auf Autoexporte. Nicht zuletzt trug der billige Yen zum Erfolg der Exporte bei, was 1985 zum Plaza-Abkommen führte (der US-Dollar sollte gegen D-Mark und Yen kontrolliert abwerten). Danach wertete der Yen massiv auf. Es floss noch mehr Geld in japanische Aktien und Immobilien, und der der Boom gipfelte in den Höchstständen von 1990. Eine Umkehr im Trend des Yen erlebten wir bereits zuletzt, gerade auch bedingt durch die kommunizierte Bestrebung der BoJ, die Zinsmärkte in Japan zu normalisieren. Das Interesse am japanischen Immobilienmarkt nimmt seitdem zu.

Kapital zu halten, lohnt sich nicht mehr

Doch was unterstützt den Aktienmarkt bislang, und sind diese Aspekte langfristige Tragsäulen für einen stabilen Aufwärtstrend? Der japanische Börsenbetreiber Japan Exchange Group (JPX) forciert massiv eine Unternehmensreform, um die Qualität des japanischen Aktienmarktes zu verbessern. Diese Bestrebung allein hätte noch nicht ausgereicht, den Markt in Bewegung zu versetzen. Zusammen mit den Impulsen aus der Inflation gewinnt die Reformagenda jedoch deutlich an Nachdruck. Mit dem Anstieg der Inflationsraten steigen auch die Refinanzierungskosten. Die Toleranz für das Festhalten an Kassepositionen, Überschusskapital und Geschäftsfeldern mit niedrigen Margen schwindet, da sich alle diese Geschäftspraktiken im Inflationsumfeld kaum noch lohnen oder sogar Werte vernichten.

Fokus auf Effizienz

Ein wesentlicher struktureller Faktor des japanischen Arbeitsmarkts ist das Angebotsdefizit von Arbeitnehmern, das die japanische Bevölkerung zunehmend veraltet und schrumpft. Darum dürfte die jetzt beginnende Lohninflation als treibende Komponente voraussichtlich langfristig erhalten bleiben. Außerdem werden Lohnerhöhungen ein Teil des Wachstumsmodells werden; davon können u. a. Job-Plattformen profitieren. Passend dazu steigt die Anzahl der Firmenpleiten, bedingt durch zunehmend ausbleibende Arbeitskräfte kontinuierlich: Waren es im ersten Halbjahr 2014 nur 35, stieg die Zahl auf 182 im ersten Halbjahr 2024. Das führt zu einem Fokus auf Effizienz und Wertschöpfung und zu einer Konzentration auf Bereiche, in denen man Stärken hat. Ferner wird der Aspekt der steigenden Lohnkosten zu einer dringend überfälligen Digitalisierung in Japan beitragen, denn die Produktivität der japanischen Arbeitnehmer stagniert seit ca. 25 Jahren.

Japanische Unternehmen bauen ihre Kapazitäten in Japan wieder aus

Die treibende Mechanik der vergangenen 30 Jahre, d.h. die Kosten zu senken, um Preise und Löhne gering zu halten, scheint sich nun umzukehren. Die Krisenfaktoren der 1990er-Jahre mit Überkapazitäten bei Personal, Fabriken und Schulden verursachten eine langanhaltende Deflation, die 30 Jahre später – nach der Sanierung und Restrukturierung – zu Bilanzen mit überdurchschnittlich viel liquiden Mitteln führten. Die jetzt begonnenen Trends sollten dazu beitragen, die Liquidität, die viele japanische Unternehmen angesammelt haben, wieder aktiv einzusetzen. Dazu bieten sich Investitionen u. a. in Digitalisierung, aber auch in lokale Produktion an. Die Development Bank of Japan befragte vor Kurzem international tätige japanische Unternehmen zu ihren Investitionsplänen in Japan. Etwa 50 Prozent der Unternehmen bekundeten ihre Absicht, in den kommenden drei Jahren ihre Kapazitäten in Japan aufzubauen zu wollen. 2019 waren es nur ca. 35 Prozent.

Die Schubumkehr von Deflation auf Inflation führt zu Aktienrückkäufen

Der japanische Börsenbetreiber JPX spielt bei der Belebung des lokalen Aktienmarktes eine zentrale Rolle. Im Jahr 2014 veröffentlichte die JPX einen Stewardship Code und 2015 einen Corporate Governance Code. Beide plädierten für die Reduktion von in Japan sehr beliebten Überkreuzbeteiligungen und haben bereits zu deren deutlicher Verringerung beigetragen. Ergänzt wurde dies im vergangenen Jahr durch die „Effizienz-Reform“, die ganz spezifisch auf die Verbesserung des Kurs-Buchwert-Verhältnisses und der Kapitaleffizienz abzielt. Zusammen mit der Schubumkehr von Deflation auf Inflation hat dieser strategische Plan stark gewirkt und konnte dem japanischen Aktienmarkt zu einer beeindruckenden Aufholjagd verhelfen. Die japanischen Firmen müssen sich auf ein Umfeld mit Inflation umstellen. Das ist gut u. a. für Preiserhöhungen bei Einzelhandels- und Konsumgüterunternehmen, die beispielsweise am 1. Oktober 2024 ihre erste Preiserhöhung seit 14 Jahren vorgenommen haben. Der japanische Börsenbetreiber unterstützt das institutionell, unter Androhung konkreter Konsequenzen (z. B. Delisting). Deutlich wird dieses Phänomen auch anhand der massiv wachsenden Aktienrückkäufe (zuletzt +72 Prozent gegenüber dem Vorjahr). Diese Maßnahme ist wohl das am schnellsten wirkende Mittel zur Steigerung der Kapitaleffizienz von überkapitalisierten Unternehmen.

Klasse statt Masse

Weitere Reformen stehen in den Startlöchern. Der japanische Aktienindex TOPIX will mit den aktuellen Reformen im Jahr 2028 die Zahl der Indexmitglieder von ca. 2.100 auf ca. 1.200 um mehr als 40 Prozent reduzieren. Mit der dann angestrebten Indexzusammensetzung soll jedes Indexmitglied durchschnittlich einen doppelt so hohen täglichen Umsatz und eine doppelt so hohe handelbare Marktkapitalisierung haben. Der Weg dorthin führt über die deutliche Verbesserung der Eigenkapitalrentabilität, der Marge und des Kurs-Buchwert-Verhältnisses. Japanische Firmen haben nach diesen Maßstäben wegen ihrer traditionell überdurchschnittlich hohen Liquidität, der Überkreuzbeteiligungen und des Festhaltens an unprofitablen Geschäftseinheiten niedrige Werte im internationalen Vergleich. All die hier angestoßenen Maßnahmen sollten den japanischen Aktienmarkt attraktiver machen. Das zeigt sich bereits am wachsenden Interesse der Japaner an ihrem eigenen Aktienmarkt: Die Anzahl der NISA-Konten (Möglichkeit der steuerbegünstigten Kapitalanlage) stieg deutlich, und über 40 Prozent der Neuanlagen in diesen Konten flossen im ersten Halbjahr in japanische Aktien. Die Vermögensaufteilung der Japaner lässt hier mit ca. 51 Prozent Bargeld und Sparguthaben noch erheblichen Spielraum für Investitionen, verglichen mit nur 13 Prozent in den USA und ca. 36 Prozent in Europa. Interessant ist, dass ein hoher Anteil auf junge Japaner entfällt – diejenigen, die den Crash der 1990er-Jahre nicht erlebt hatten.

Steigende Zinsen bergen Potenzial für den Finanzsektor

Die BoJ hat am 31.07.2024 zum zweiten Mal die Zinsen angehoben von einer Spanne von 0 Prozent bis 0,1 Prozent auf 0,25 Prozent. Sie erklärte auch ihre Absicht, die Leitzinsen weiter anzuheben, wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung und die Preisentwicklung im Rahmen ihres Ausblicks bewegen. Fernern kündigte sie an, die Käufe der japanischen Anleihen pro Quartal um 400 Mrd. Yen zu reduzieren – sie bleibt damit de facto weiter im „Easing-Modus“, ermöglicht aber über die geringere Nachfrage ein graduell steigendes längeres Ende der Zinskurve.
 
Damit hat die BoJ die Basis für den Bankensektor die Basis gelegt, um von höheren Zinsaufschlägen, höheren kurzfristigen Leitzinsen, höheren Renditen japanischer Staatsanleihen (JGBs) und einem Anstieg der Übernachtzinsen (TIBOR) zu profitieren. Wie schon zuvor in Europa und den USA zuvor, ermöglicht das den Banken die Rückkehr in ein „normales“ operatives Umfeld mit einer sektorkonformen Rentabilität. Damit begibt man sich auch direkt auf den politisch gewollten Pfad der Verbesserung der Rentabilität und des Kurs-Buchwert-Verhältnisses. Wie zuvor beschrieben, ergibt sich das Zinsergebnis aus unterschiedlichen Quellen bzw. unterschiedlichen Laufzeiten der Zinskurve. Mittelfristig erscheint es realistisch, von einem Anstieg am kurzen wie auch am längeren Ende der Zinskurve auszugehen. Für eine Modellrechnung mit einem Zins von 0,25 Prozent im Übernachthandel, 0,50 Prozent für 2-jährige JGBs und 1,20 Prozent für 10-jährige JGBs ergibt sich somit ein Aufwärtspotenzial im Zinsergebnis um mittelfristig 20 bis 30 % für die japanischen Großbanken.
 
Kurzfristig kann der japanische Markt mit den Schwankungen der Wechselkurse volatil sein. Strukturell ist aber, und das besonders für den Finanzsektor (sein Anteil im TOPIX-Index entspricht ca. 13 Prozent), eine Richtungsänderung eingeleitet worden, die mittelfristig weiteres Potenzial bergen sollte.
GlMoritz Rehmann ist Fondsmanager des DJE – Multi Asset & Trends und Analyst für die Sektoren Finanzen, Konsum und Technologie bei der DJE Kapital AG.
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