Nicolas Wylenzek / Bild: Wellington Management
Zahlen des Statistischen Amtes der Europäischen Kommission, Eurostat, verdeutlichen das Ausmaß des demografischen Wandels. Eurostat schätzt, dass der Anteil der über 65-Jährigen, die in der Europäischen Union (EU) leben, von etwa 20 Prozent der Bevölkerung Ende 2019 auf einen Höchstwert von etwa 30 Prozent im Jahr 2050 ansteigen wird. Mit anderen Worten: Der Altenquotient wird von etwa 34 Prozent im Jahr 2019 auf ca. 57 Prozent im Jahr 2050 anwachsen. Das bedeutet, dass auf jede Person im Alter von 65 Jahren und älter nicht mehr drei Personen im erwerbsfähigen Alter kommen, sondern bestenfalls noch zwei.
Die Folgen werden in vielen Bereichen der europäischen Wirtschaft zu spüren sein, sei es im Gesundheitswesen, im Verbraucherverhalten oder bei den Unternehmensinvestitionen, aber vielleicht nirgendwo so sehr wie auf dem Arbeitsmarkt, wo wir bereits heute erste Auswirkungen sehen. Obwohl Europa im Jahr 2023 eine deutliche konjunkturelle Abschwächung erlebte, erreichte die Arbeitslosigkeit in den meisten europäischen Volkswirtschaften den niedrigsten Stand seit mehreren Jahrzehnten. Darüber hinaus gibt es Anzeichen für eine Hortung von Arbeitskräften, da die Unternehmen Mitarbeiter, die sie nicht unbedingt benötigen, weiterbeschäftigen, weil sie befürchten, dass sie bei einer Erholung der Wirtschaft keine neuen Mitarbeiter finden werden.
Der Strukturwandel wird diesen Druck auf den Arbeitsmarkt verstärken
Diese Verschärfung fällt mit strukturellen Veränderungen zusammen, die eher mehr als weniger Personal erfordern werden:
- Energiewende: Ich denke zwar, dass die Energiewende für Europa letztlich deflationär sein wird, aber der Aufbau der notwendigen Infrastruktur wird arbeitsintensiv sein.
- Neugestaltung der Lieferketten: In den letzten Jahrzehnten ging es bei Lieferketten vor allem um Effizienzsteigerung und Kostensenkung. Vor dem Hintergrund zunehmender geopolitischer Spannungen und einer stärkeren Fokussierung auf die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten versuchen die politischen Entscheidungsträger in Europa nun, Produktionskapazitäten in einer Reihe von Schlüsselsektoren wieder in die EU zu verlagern, was eine weitere Nachfrage nach Arbeitskräften impliziert.
- Zunehmender internationaler Wettbewerb um billige Arbeitskräfte: Die demografische Herausforderung ist nicht nur ein europäisches Phänomen. Japan kämpft seit Jahren mit diesem Thema, aber die Unternehmen haben es vermieden, im Inland höhere Löhne zu zahlen, indem sie Tätigkeiten nach China und in andere asiatische Länder verlagert haben. Da China und andere Volkswirtschaften nun vor dem gleichen Problem stehen, wird diese Option immer schwieriger. Mit der Zeit könnte Afrika neue Outsourcing-Möglichkeiten bieten, aber diese werden wahrscheinlich auch mit höheren geopolitischen, Lieferketten- und Klimarisiken verbunden sein. Insgesamt übersteigt meines Erachtens die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften das Angebot.
Höhere Löhne, höhere Inflation und geringere Gewinnmargen
Eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung sollte den Arbeitnehmern wieder etwas Verhandlungsmacht geben, was zu einem strukturell höheren Lohnwachstum führen würde. Unter sonst gleichen Bedingungen wirkt sich diese Änderung in zweierlei Hinsicht aus:
- Niedrigere Margen: Höhere Lohnzuwächse ohne entsprechende Produktivitätssteigerungen werden die Lohnstückkosten erhöhen und die Gewinnmargen der Unternehmen schmälern, insbesondere in arbeitsintensiven Branchen. Aus einer Top-Down-Perspektive sinkt damit der Anteil der Gewinne am BIP tendenziell, während der Anteil der Löhne am BIP steigt.
- Höhere Inflation: Das Lohnwachstum ist ein wichtiger Faktor für die Inflation, insbesondere im Dienstleistungssektor. Ohne Produktivitätssteigerungen führt dies mittelfristig zu einer strukturell höheren Inflation.
Verschiedene Antworten sind möglich, aber höhere Investitionen in die Produktivität sind wahrscheinlich der richtige Weg nach vorn.
Vereinfacht gesagt, gibt es drei Möglichkeiten, das Problem anzugehen:
- Vergrößerung der Erwerbsbevölkerung durch Einwanderung;
- Verlängerung der Arbeitszeit der vorhandenen Arbeitskräfte; oder
- Steigerung der Produktivität.
Während der Weg in die Zukunft wahrscheinlich eine Kombination aus allen dreien sein wird, denke ich, dass die größte Chance in der Verbesserung der Produktivität liegt.
Zuwanderung dürfte kurzfristig nicht helfen
Oxford Economics geht davon aus, dass die europäische Erwerbsbevölkerung jährlich um rund 700.000 Personen schrumpfen wird. Selbst im optimistischsten Szenario würde dies bedeuten, dass Europa jährlich etwa 1,2 Millionen Zuwanderer benötigt. Diese höhere Zahl spiegelt die Tatsache wider, dass Migranten ihre Familien nachholen wollen und dabei häufig Sprach- und Qualifikationshürden überwinden müssen. So viele neue Einwanderer in einem Jahr hat es seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gegeben – mit Ausnahme des Jahres 2022, als viele ukrainische Flüchtlinge in die EU kamen. Darüber hinaus sind Zuwanderer in der Regel unterbeschäftigt, was ihre Fähigkeit, höher qualifizierte Arbeitskräfte zu ersetzen, einschränkt.
Gleichzeitig verringert die zunehmend einwanderungskritische Haltung der europäischen Wählerschaft – wie der jüngste politische Rechtsruck zeigt – die Wahrscheinlichkeit, dass die erforderlichen Zuwanderungszahlen erreicht werden.
Längere Arbeitszeiten dürften auf erheblichen Widerstand stoßen
Es
gibt eine Reihe von Maßnahmen, die die derzeitigen Arbeitskräfte zu mehr
Arbeit ermutigen oder zwingen könnten, aber Schritte wie die Anhebung
des Rentenalters sind in der Regel sehr unpopulär, wie die jüngsten
Ereignisse in Frankreich gezeigt haben. Wenn überhaupt, dann sehen wir
eine wachsende Nachfrage nach einer kürzeren Arbeitswoche. Weitere
Möglichkeiten sind die Erleichterung von Altersteilzeit oder – wie
derzeit in Deutschland diskutiert – steuerliche Anreize für Überstunden.
Eine erfolgversprechendere Option wäre es, die Erwerbsbeteiligung von
Frauen auf das hohe Niveau einiger skandinavischer Länder anzuheben.
Dies erfordert jedoch die Entwicklung bezahlbarer und nachhaltiger
Kinderbetreuungsmodelle und die Beseitigung des anhaltenden
Lohngefälles. Die politischen Prioritäten scheinen sich derzeit jedoch
auf andere Bereiche zu konzentrieren, insbesondere auf die Energiewende
und die Verteidigung.
Investitionen in die Produktivität sind der „einfachste“ Weg nach vorne
Meiner Meinung nach ist dies der wahrscheinlichste Weg in die Zukunft. Während die Produktivitätszuwächse in Europa in den letzten zehn Jahren alles andere als berauschend waren, denke ich, dass die europäischen Entscheidungsträger an zwei Stellschrauben drehen können, um die Produktivität zu steigern:
- Weniger Bürokratie: Aus einer Reihe von Unternehmensumfragen geht hervor, dass die Bürokratie ein wesentliches Hindernis für die Geschäftstätigkeit in der EU darstellt. Durch den Abbau von Bürokratie könnte die Effizienz erheblich gesteigert werden. Jüngste Äußerungen von EU-Politikern deuten darauf hin, dass das nächste EU-Parlament wirtschaftsfreundliche Reformen zu einer seiner Hauptprioritäten machen könnte. Die Herausforderung wird darin bestehen, dies in einer Weise zu tun, die unnötige Bürokratie beseitigt und gleichzeitig sicherstellt, dass die politischen Ziele, die diesen Vorschriften zugrunde liegen, in Bereichen wie öffentliche Gesundheit und Umwelt weiterhin erreicht werden, da einer ihrer Hauptvorteile in der Steigerung der langfristigen Produktivität Europas besteht.
- Mehr Investitionen in Ausbildung, Automatisierung und Effizienz: Die Vorschläge der Europäischen Kommission, die Umschulung von Arbeitnehmern zu unterstützen (Europäisches Jahr der Kompetenzen 2023) oder in die Digitalisierung zu investieren (eine wichtige Säule des Haushaltsprogramms NextGenerationEU), sind positive Schritte. Sie können die erwarteten Investitionen des Privatsektors in Effizienz- und Produktivitätssteigerungen ergänzen, wobei KI-Technologien in vielen Sektoren als Beschleuniger wirken können.
Welche Implikationen ergeben sich daraus für die Anleger
Neben dem Druck auf die Margen der Unternehmen und der höheren Inflation sehe ich zwei wesentliche Anlageimplikationen:
- Chancen bei Unternehmen, die Produktivitätssteigerungen unterstützen: In Zeiten angespannter Arbeitsmärkte tendieren Unternehmen dazu, ihr Kapital in Forschung und Entwicklung, Software und Industrieausrüstung umzuleiten, um die Effizienz und Automatisierung zu steigern. Ich gehe daher davon aus, dass die Investitionen in diesen Bereichen zunehmen werden, wovon einige europäische Aktien profitieren dürften. Unternehmen, die diese verstärkten Investitionen in Effizienz durch ihre Lösungen und Dienstleistungen ermöglichen, sind besonders gut positioniert, um davon zu profitieren.
- Unterscheidung zwischen relativen Gewinnern und Verlierern: Wie effektiv die Länder auf die demografische Herausforderung reagieren, wird wahrscheinlich zu einem wichtigen Unterscheidungsmerkmal für die europäischen Volkswirtschaften werden. Insgesamt denke ich, dass Spanien, Großbritannien, Irland und in geringerem Maße auch Portugal einen klaren Vorteil haben, da ihre Sprachen weit verbreitet sind. Auch wenn sie derzeit mit ähnlichen politischen Reaktionen auf Zuwanderung konfrontiert sind wie andere europäische Länder, erleichtert eine gemeinsame Sprache im Allgemeinen die Anwerbung und Integration von Zuwanderern.
Insbesondere Spanien konnte in früheren Phasen des Wirtschaftswachstums auf einen großen Pool von Zuwanderern aus Lateinamerika zurückgreifen. Da die Staatsbürgerschaft bereits nach zweijährigem Aufenthalt erworben werden kann, zieht Spanien auch viele hochqualifizierte und wohlhabende Menschen aus Lateinamerika an. Dies ist eine wichtige Stütze für meine strukturell positive Einschätzung Spaniens.