Das Linda-Problem: Irrationales Verhalten und der Kapitalmarkt

Tobias Kern, HRK LUNIS
Tobias Kern / Bild: HRK LUNIS
Daniel Kahneman legte mit seinen Arbeiten zu menschlichem Verhalten in Entscheidungssituationen den Grundstein für die verhaltensorientierte Finanzmarkttheorie. Der Nobelpreisträger prägte die Wirtschaftswissenschaften damit wie kein anderer Psychologe. Was wir heute noch von ihm lernen können.
Zu Beginn ein kleines Gedankenexperiment: Linda ist 31 Jahre alt, ledig, aufgeschlossen und sehr intelligent. Sie hat einen Abschluss in Philosophie. Als Studentin war sie sehr stark interessiert am Problem der Diskriminierung und an der sozialen Gerechtigkeit und nahm an Anti-Atomkraft-Demonstrationen teil. Inzwischen hat sie einen festen Job. Was ist wahrscheinlicher: 1) Linda ist Bankangestellte? Oder 2) Linda ist Bankangestellte und zudem in der feministischen Bewegung aktiv?
 
Interessanterweise halten die meisten Befragten das zweite Szenario für das Wahrscheinlichere, obwohl es ein Spezialfall des Ersten ist. Ihnen unterläuft dabei ein sogenannter Konjunktionsfehler, denn die Kombination zweier Aussagen kann nicht wahrscheinlicher sein als eine einzelne Aussage. Es ist näherliegender, dass Linda nur Bankangestellte ist.
 
Diese Versuchsanordnung ist als Linda-Problem berühmt geworden. Kahneman versuchte anhand solcher Experimente und Fragestellungen herauszufinden, wie Menschen zu Entscheidungen gelangen, wenn sie mit Unwägbarkeiten konfrontiert sind. Ein Themenfeld, das auch für die Kapitalmärkte hochinteressant ist.

Verwunderliche Anomalien

Im März diesen Jahres verstarb der Israelisch-US-Amerikanische Psychologe und Nobelpreisträger, der vor allem für seine gemeinsamen Arbeiten mit dem israelischen Psychologen Amos Tversky Bekanntheit erlangte. Der wichtigste Aufsatz des Forscherduos mit dem Titel „Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk“ wurde bereits 1979 geschrieben. Anhand einer Reihe von Experimenten, meist einfache Lotterien, untersuchten Kahneman und Tversky das Entscheidungsverhalten der Teilnehmer und dokumentierten dabei eine Anzahl von Anomalien, die verwunderlich erschienen. Denn diese Anomalien widersprachen der zu diesem Zeitpunkt in der Wirtschaftswissenschaft weit verbreiteten Annahme des „Homo eoconomicus“. Also der Annahme, dass Menschen stets als rationale Nutzenmaximierer agieren. Die Idee des rationalen Nutzenmaximierers war somit entzaubert.

Verlustaversion herrscht vor

Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Prospekt-Theorie gehört die Verlustaversion. So bevorzugen Individuen sichere Zahlungen gegenüber höheren, aber unsicheren Gewinnen. Als Beispiel kann man sich die Lotterie eines Münzwurfs vorstellen. Wurden Teilnehmer gebeten, 100 Dollar auf den Wurf einer Münze zu setzen (Kopf oder Zahl?), so wurde diese Wette in der Regel nicht angenommen, solange der Gewinn nicht 200 Dollar oder mehr beträgt. Das Experiment zeigte, dass Menschen im Durchschnitt etwa doppelt so viel gewinnen wollten, wie sie zu verlieren bereit waren, um die Wette einzugehen. Dabei wäre die Wette bereits ab einem Gewinn größer 100 Dollar attraktiv, da ab dieser Summe der potentielle Gewinn das Verlustrisiko übersteigt.

Überschätzen des eigenen Einflusses

In ihren Forschungen zur Frage, warum Menschen nicht immer rational entscheiden, deckten Kahneman und Tversky eine Reihe von sogenannten kognitiven Verzerrungen auf, die das Verhalten beeinflussen. Kognitive Verzerrungen sind unbewusste Fehler in unserem Denkprozess und unserer Wahrnehmung. Als Beispiel lässt sich der Ankereffekt nennen. Wird in einer Kaufverhandlung eine noch so unrealistische Zahl genannt, so beeinflusst diese das Ergebnis, da sie unbewusst als Referenzpunkt herangezogen wird.
 
Eine weitere Wahrnehmungsverzerrung ist die Vermessenheitsverzerrung (oder einfach nur Selbstüberschätzung genannt), die sicherlich viele Fußballfans nachvollziehen können. Darunter fällt nämlich das Überschätzen des eigenen Einflusses auf die Zukunft. Welcher Fußballfan hat sich nicht schon einmal bei dem Gedanken erwischt, dass das Tragen eines bestimmten Trikots den Spielausgang beeinflussen wird?

Schnelles Denken oder langsames Denken

Breitere Bekanntheit außerhalb der Wissenschaft erlangte Kahneman mit der Veröffentlichung seines Buchs „Schnelles Denken, langsames Denken“ im Jahr 2011, welches die wichtigsten Erkenntnisse aus mehreren Jahrzehnten zusammenfasst und auch für Laien greifbar macht. Darin unterscheidet Kahneman zwischen zwei Arten des Denkens. Das System 1 umfasst das schnelle und instinktive Denken, welches besonders von den kognitiven Verzerrungen beeinträchtigt wird. Man denke an eine gefährliche Begegnung mit einem Löwen in der Savanne. Hier wird instinktiv richtig gehandelt und die Flucht ergriffen. System 2 beschreibt das logischere und langsamere Denken, das bei vielen Alltagsentscheidungen allerdings (berechtigterweise) nicht zum Einsatz kommt. Würde im Alltag nur das System 2 zum Zuge kommen, würden wir es nicht aus dem Haus schaffen, da eine objektive Kosten-Nutzen-Analyse aller Entscheidungen – von der Auswahl des Frühstücks bis zur Kleidung – zu lange dauern würde.

Ein Fundament für die Finanzmarkttheorie

Es herrschte die Meinung, Psychologie sei nicht wirklich relevant in der Ökonomie. Das hat sich geändert.“ – Daniel Kahneman
 
Obwohl Kahneman und Tversky auf dem Gebiet der Psychologie forschten, lieferten die Erkenntnisse zu irrationalen Verhaltensmustern das Fundament für die verhaltensorientierte Finanzmarkttheorie. Diese Subdisziplin der Verhaltensökonomik beschäftigt sich mit irrationalen Verhalten an Kapitalmärkten und wurde in großen Teilen von dem US-amerikanischen Nobelpreisträger Richard Thaler geprägt. Sie steht damit im direkten Widerspruch zur Hypothese von effizienten Kapitalmärkten.
 
Mithilfe dieser Erkenntnisse lassen sich viele Kapitalmarktanomalien, wie zum Beispiel Kalenderanomalien, besser erklären. Marktweite Anomalien können zwar nicht generell mit Verhaltensweisen und Vorurteilen einzelner Anleger erklärt werden, denn individuelle Präferenzen allein können Marktpreise nicht signifikant verschieben. Zudem können sich die Vorurteile einzelner wechselseitig neutralisieren. Hier sind Phänomene wie Herdenverhalten und Gruppendenken ausschlaggebend. Die Verlustaversion kann jedoch erklären, warum viele Marktteilnehmer häufig Schwierigkeiten haben, ein Wertpapier zu verkaufen, das seit Erwerb an Wert verloren hat. Dies würde ja bedeuten, bei der Auswahl des Wertpapiers einen Fehler begangen zu haben. Gewinne werden daher oft schneller realisiert als Verluste, obwohl langfristig denkende Investoren genau das Gegenteil tun sollten.

Emotionales Handeln kostet Geld

Ein bekannter Erforscher der menschlichen Psychologie und irrationalen Verhaltens ist auch Charlie Munger, der im vergangenen November verstorbene, legendäre Partner von Warren Buffett. 1995 hielt Munger eine berühmte Rede an der Harvard Universität, in der er eine Sammlung von Anomalien menschlichen Handelns aufführte, die er sich im Selbststudium erarbeitet hatte. Ein von Munger geprägter Begriff ist der Lollapalooza-Effekt, eine Kombination mehrerer irrationaler Verhaltensweisen, die zu extremen Ereignissen führen kann. Für ihn war das Thema einer der Pfeiler seiner Weltanschauung und diente auch zur Vermeidung von katastrophalen Fehlern beim Investieren. Munger wandte bei zu treffenden Entscheidungen oft das mentale Modell des „Invertierens“ an. Er betrachtete die zu lösenden Problemstellungen also rückwärts gedacht. Dies hieß, um gute Entscheidungen zu treffen, sammelte er Beispiele für schlechtes Urteilsvermögen und dachte darüber nach, wie man solche schlechten Ergebnisse vermeiden könnte.

"Es ist bemerkenswert, wie viele langfristige Vorteile Menschen wie wir dadurch erlangt haben, dass wir versucht haben, nicht dumm zu sein, anstatt zu versuchen, sehr intelligent zu sein." – Charlie Munger

An der Börse kostet instinktives und emotionales Handeln meist Geld. Gerade in Phasen großer Panik oder in Zeiten der Euphorie gilt es Ruhe zu bewahren, Emotionen zu ignorieren und dem langsameren System 2 das Denken zu überlassen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Investmentstrategie ist, dass man möglichst wenig (große) Fehler begeht und seiner Strategie treu bleibt. Die alleinige Erkenntnis über die Existenz unserer Denkfehler reicht nicht aus, ist jedoch ein hilfreicher Baustein. Wichtig ist unabhängiges Denken, Disziplin, Geduld und sich bewusst zu machen, wie weit das eigene Wissen reicht.
Von Tobias Kern, Aktienanalyst und Portfolio Manager bei HR LUNIS