Norbert Betz: Bild: BBAG/Killius
Der vierzehnte Teil unseres Exkurses zur Börsenpsychologie befasst sich mit dem grundsätzlichen Unterschied zwischen Zocken oder Wetten, dass bestimmte Aktien abgehen wie die Post, und wirklichem anlegen oder investieren. Hier haben die Börsianer in den vergangenen 100 Jahren tatsächlich Fortschritte gemacht – aber leider nicht alle.
Noch vor 100 Jahren wurde an den Aktienmärkten fast ausschließlich „gezockt“. Es wurde wild spekuliert, wie sich Unternehmen, Märkte und Branchen entwickeln könnten, es gab keine Basis und keine Erfahrung, wie langfristig und nachhaltig investiert werden könnte. Es wurde auf Erwartungen gewettet und so holten sich viele Anleger eine blutige Nase – wirklich ausgestorben ist diese Art der Börsengeschäfte leider auch heute noch nicht. Immerhin, ohne diese leidenschaftliche Lust an der Spekulation hätte es wohl keinen Eisenbahnbau und keine Brauerei AGs gegeben und so mancher Industriezweig hätte sich schwer getan, über die ersten Anfänge hinaus zu gelangen.
Benjamin Graham und die ersten Fundamentalanalysen
Es ist im Wesentlichen einem Börsianer zu verdanken, dass viele Anleger und vor allem auch institutionelle Investoren heute anders agieren. Benjamin Graham wollte Börsenerfolg mit System erzielen. Er war der erste professionelle Anleger, der die Unternehmen systematisch unter die Lupe nahm. Er untersuchte, welche Vermögenswerte die börsennotierten Unternehmen besitzen, er betrachtete die Umsatz- und Gewinnentwicklungen und leitete daraus fundierte Prognosen für zu erwartende Geschäftserfolge ab. Aus diesen unterschiedlichen Zahlen berechnete Graham dann das Kursziel. Lag der aktuelle Aktienkurs deutlich unter dem berechneten fairen Wert, schlug Graham zu und kaufte die Aktie. Dann hieß es nur noch, abzuwarten und die Titel zu halten, auch über schwere Börsenzeiten hinweg. Sein Musterschüler wurde Warren Buffett, der diese Art des Investierens perfektionierte.
Value Investment – nicht für jedermann
Doch dieses heute unter dem Begriff des Value Investment bekannte Verfahren setzt Erfahrung und betriebswirtschaftliche Kenntnisse voraus – keinesfalls selbstverständlich und auch nicht notwendig für Otto Normalanleger. Der macht in der Regel das genaue Gegenteil. Statt zeitaufwändiger Analysen hört er dort von einem Bekannten über ein interessantes Engagement, er liest einen Artikel in jener Fachzeitschrift mit Favoriten und der Freund am Abend in der Bar hat noch einen todsicheren Tipp für einen phantastischen Börsenerfolg parat. So kauft und kauft und kauft der Anleger ein buntes Sammelsurium an Aktien ein und hat schnell ein »Universum« im Depot liegen, das leider alles ist nur nicht universal.
Gier hilft nicht weiter
Überdies hält er nicht lange an Aktien fest, die er im Depot liegen hat, denn er hört ja von immer neuen Chancen, bei denen er unbedingt mit dabei sein möchte. »Gier« ist leider eine der häufigsten emotionalen Verlustbringer an der Börse. Immer neue Moden und Anlagemodelle, gerne unter dem Signum des ultimativen Steuersparens, werden so durchs Dorf getrieben und Anleger greifen beherzt zu Modellen, die bei nüchterner Betrachtung vor allem eines sind: riskant. Tatsächlich spart man damit Steuern, aber vor allem, weil man sein Vermögen sukzessive verkleinert. Und nicht zuletzt, für das ständige Kaufen und Verkaufen gilt das alte, aber durchaus passende Börsen-Sprichwort: Hin und her macht Taschen leer. Depots, die nur auf kurzfristige Erfolge aus sind und nur neuesten Trends folgen, erweisen sich meist als nicht sehr krisenfest.
Diversifikation ist alles
Denn typische Depots, die so entstehen, weisen eine viel zu geringe Diversifikationsrate auf. An der Börse ist vielleicht wenig wissenschaftlich erwiesen, eines aber doch: Je mehr ein Depot diversifiziert ist, desto geringer ist das Risiko. Auch berücksichtigen Anleger mögliche Korrelationen zwischen unterschiedlichen Werte nicht: Wie abhängig sind bestimmte Branchen von anderen Branchen, Unternehmen von anderen Unternehmen, Regionen von anderen Regionen und habe ich als Anleger deshalb auch noch ein Klumpenrisiko in meinem Depot?
Grundsätzliche Fragen für systematisches Anlegen
- Wie viel Geld will ich in welche Risikoklassen investieren?
- Welche Summe möchte ich schnell flüssig machen können und bei welcher habe ich ausreichend Geduld, sie lange liegen zu lassen.
- Wieviel Risiko traue ich mir zu und wie viel Prozent meines Kapitals lege ich in Aktien, Anleihen, Fonds und alternativen Anlagen an?
- Einen wie hohen Anteil meines Vermögens investiere ich in sichere und langweilig(er)e Branchen oder auch einen gewissen Prozentsatz in High-Tech und Internet-Werte?
- Wie verteile ich die Anlage weltweit?
- Und zuletzt: Welche Anlagestrategie passt am besten zu mir, an der ich dann aber auch bei Rückschlägen festhalte.
Nun ist niemand verpflichtet, über die Jahre hinweg sklavisch an einer Strategie festzuhalten, die sich als nicht stichhaltig erwiesen hat. Vielmehr sollte sie regelmäßig auf ihre Rendite abgeklopft und bei Bedarf angepasst und verändert werden. Aber eben nicht durch Chancenfixierung, blindem Nachkaufen und ähnlichen Börsenfallen soweit verwässert werden, dass das Konto keine Struktur mehr aufweist.
Norbert Betz, Leiter der
Handelsüberwachung an der Börse München, setzt sich seit Jahren mit den
Psychofallen an der Börse auseinander: als leidenschaftlicher Trader wie
als distanzierter Marktbeobachter, als Referent (online und offline)
und Autor.
Gemeinsam mit Ulrich Kirstein hat er
Börsenpsychologie simplified, 2. Auflage 2015,
erschienen im FinanzBuchVerlag, geschrieben. Für die Börse München
außderdem das Booklet Psychofallen an der Börse. Wie wir sie erkennen
und vermeiden. (2. Auflage 2021)