Im fünften Teil unseres kleinen Exkurses zur Börsenpsychologie behandeln wir unsere Sucht, nicht anzuecken, sondern möglichst allen zu gefallen. Wir wollen nicht gegen den Strom schwimmen, sondern uns lieber mit allen anderen treiben zu lassen - oder uns zumindest in unserer Blase bewegen. Aber was bedeutet diese Sucht nach Harmonie mit anderen, aber auch mit uns selbst, bei der Aktienanlage?
Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt, singt sich schon Pippi Langstrumpf die Welt so, wie sie sie haben will. Wir machen es in der Regel umgekehrt: wir nehmen die Welt wie sie ist und richten uns darin häuslich ein. Denn mit dem Strom zu schwimmen erleichtert das Leben ungemein. Über Jahrtausende lang war konformes Handeln im Kreise Gleichgesinnter sogar überlebensnotwendig. Einzelgänger kamen um, Ötzi lässt grüßen. Auch heute gehen wir, wenn wir nicht ausgesprochene Misanthropen sind, Streitereien und Unstimmigkeiten lieber aus dem Weg, als dass wir sie vom Zaun brechen. Notorische Querulanten lassen wir mal außen vor.
Entscheiden bedeutet auswählen
Noch viel weniger mögen wir es, mit uns selbst im Clinch zu liegen. Dumm nur, jede Entscheidung, die wir für etwas treffen, bedeutet gleichzeitig, eine Entscheidung gegen etwas. Gehe ich ins Freibad oder ins Kino, kaufe ich ein Auto oder mache ich eine Reise, kaufe ich ein praktisches oder ein sportliches, ein rotes oder ein blaues, ein neues oder ein gebrauchtes Auto, einen Diesel oder ein Elektrofahrzeug, fahre ich an die See oder in die Berge – entscheiden bedeutet per se, dass wir etwas auswählen und dafür anderes lassen. Nicht zuletzt kommt „entscheiden“ von scheiden wie trennen.
Wir hängen an "unseren" Aktien
Wenn wir uns dann aber einmal entschieden haben (für etwas und gegen etwas), dann hängen wir mit Leib und Seele daran – und ein wenig auch mit dem Verstand. Übersetzt auf ein Aktieninvestment heißt das, wir tun uns lange schwer, eine ganz bestimmte Aktie auszuwählen und viele attraktive Alternativen dafür links liegenzulassen. Haben wir dann aber ein Papier gewählt, dann halten wir an einer solchen Aktie auch emotional fest, wir stehen quasi hinter und zu ihr. In guten wie – leider – auch in schlechten Zeiten. Wir sollten ein Wertpapier aber nicht heiraten, Nibelungentreue ist nicht erfolgversprechend, sondern es sollte seinen Zweck für uns erfüllen, und der heißt nicht ewige Bindung, sondern bestmögliche Rendite bei überschaubarem Risiko.
Liebe macht blind
Leider klammern wir aber – und da ist es tatsächlich ähnlich wie in der Liebe – alle negativen Meldungen rund um unser Wertpapier aus, wir betrachten es durch einen Harmonie-Spiegel. Wir suchen nach Bestätigungen, die unsere Meinung unterstützen. Gekonnt filtern wir alle Informationen aus, die nicht in unser Schema passen, wie in den vorigen Punkten bereits erwähnt. Lässt sich die Aufnahme schlechter Informationen partout nicht vermeiden, deuten wir sie kurzerhand zu unseren Gunsten um oder billigen ihnen keine Relevanz zu. Wir vermeiden damit jegliche Dissonanz und sonnen uns in Harmonie. Uns geht es richtig gut dabei – leider spielt das Depot da aber oft nicht mit.
Wir geben ungern Fehler zu
Jede Entscheidung führt also zum Verlust unserer Neutralität, das sollte uns immer bewusst sein. Wir halten deshalb zu lange an unseren Engagements fest, auch wenn sich die objektive Faktenlage deutlich verschlechtert. Nicht konform mit unserer Harmoniesucht geht auch die Tatsache, dass wir anerkennen, einen Fehler gemacht zu haben, und unsere Verlustbringer über Bord werfen. Solange es nur „Buchverluste“ sind, sehen wir darüber hinweg, würden wir die Papiere verkaufen, müssten wir Verluste tatsächlich eingestehen und realisieren. Das stört unser Selbstwertgefühl als versierte Anleger gewaltig. Die Hoffnung stirbt zuletzt, also hoffen wir immer weiter, auch wenn die Kurse unsere „Lieblinge“ ins Bodenlose fallen.
Verlustbringer frühzeitig abstoßen
Diese permanenten Verlustbringer wirken auf dem Papier ja gar nicht so tragisch, vor allem wenn wir unser Depot in verschiedene Konten unterteilt haben und inzwischen wissen, dass Verluste uns immer weniger tangieren, desto länger wir sie einfahren. Da lohnt es, sich einmal zu überlegen, wie viel Gewinn wir benötigen, um solche Verluste wieder ins Lot zu bringen. Gar nicht zu reden davon, wie viel Gewinne im gleichen Zeitraum erlöst hätten werden können, wenn die Verlustbringer frühzeitig abgestoßen worden wären und dafür in zukunftsträchtigere Werte investiert worden wäre – lauter Konjunktive, wie Sie merken, Also, handeln an der Börse heißt zwangsläufig, Verluste zu akzeptieren, aktiv werden und nicht im Konjunktiv verharren.
Die Lehre aus der Harmoniesucht?
Zu lange an falschen Entscheidungen festhalten, bedeutet, anderweitig Chancen auslassen. Vielleicht erklärt ein einfaches Rechenbeispiel, wie schwierig es ist, Verluste durch Gewinne auszugleichen:
- Ein Verlust von 50 Prozent muss mit einer Steigerung von 100 Prozent ausgeglichen werden!
- Ein Verlust von 75 Prozent muss mit einer Steigerung von 300 Prozent ausgeglichen werden
- Ein Verlust von 95 Prozent muss mit einer Steigerung von 1.900 Prozent ausgeglichen werden
Norbert Betz, Leiter der Handelsüberwachung an der Börse München, setzt
sich seit Jahren mit den Psychofallen an der Börse auseinander: als
leidenschaftlicher Trader wie als distanzierter Marktbeobachter, als
Referent (online und offline) und Autor.
Gemeinsam mit Ulrich
Kirstein hat er
Börsenpsychologie simplified, 2. Auflage 2015,
erschienen im FinanzBuchVerlag, geschrieben. Für die Börse München
außderdem das Booklet Psychofallen an der Börse. Wie wir sie erkennen
und vermeiden. (2. Auflage 2021)