Norbert Betz / Bild: Killius
Das letzte Mal hatte ich von Windgöttern, den Irrfahrten des Odysseus und Stürmen berichtet mit Blick auf die stürmische Börsenlandschaft (siehe Sturmwarnung). Dabei gab es damals weder den Krieg in der Ukraine noch die heftigen Unwetter mit schweren Sturmböen des Tiefs „Emmelinde“. Hatte Kassandra mir eingeflüstert? Unser Kanzler sprach zu Beginn des Krieges von einer „Zeitenwende“, andere warnten vor „toxischer Männlichkeit“ (sie meinten nicht den Kanzler). Aber wandeln sich angesichts der Lage unsere Vorbilder, von den Friedfertigen zu den Schlagkräftigen? Dazu fällt mir eine so vertraute wie umstrittene Heldengestalt der Antike ein: Achill.

Die Sage

Achill ist der eigentliche Anführer der Griechen vor Troja. Seine Mutter, die Meernymphe Thetis, hatte ihn in Frauenkleidern ge- und am Hofe des Königs Lykomedes versteckt, damit er nicht in den Krieg ziehen musste. Das war zwecklos und er zog mit den Helden. Im Streit um die schöne Briseis schmollte der große Krieger und zog sich in sein Zelt zurück. Die Griechen verloren Kampf um Kampf, bis sein Freund Patroklos, in Achills Waffen gegürtet, von Hektor erschlagen wurde. Das erzürnte Achill und er kämpfte an der Seite der Seinen, er tötete den trojanischen Helden Hektor. Weil ihm prophezeit worden war, dass er diese Tat nicht lange überleben würde, traf ihn ein Pfeil des Paris an der einzigen verwundbaren Stelle seines Körpers – der Verse.

Die Lage

Wir sehen uns als Anleger derzeit einer unübersichtlichen Gemengelage aus vielerlei Gefahrenquellen gegenüber: Krieg und Sanktionen, Lockdown in Teilen Chinas, Lieferkettenprobleme und hohe Energiepreise, Zinserhöhungen bei der Fed und jetzt auch von der EZB mit 0,50 Prozentpunkten sogar kräftiger als angekündigt. Die gefährlichsten Trojanischen Pferde jedoch heißen Decoupling, die Entkoppelung vom wohlstandsschaffenden, internationalen Handel und das kaufkraftzersetzende Gespenst der Inflation, welches durch schlafwandlerische Notenbanken erst genährt und dann nicht rechtzeitig aus dem Raum verbannt wurde. Jedes dieser Phänomene hat die Kraft, das Spiel zu verändern. Zusammen können sie toxisch wirken.
 
Wie die vielfältigen Probleme sich auf einzelne Länder, Branchen, Unternehmen auswirken, ist schwer kalkulierbar, einen Ganzkörperschutz gibt es nicht, unsere Achillesversen sind höchst verwundbar und ähneln eher Zielscheiben. Wir bedienen uns der Vereinfachungsheuristik, flüchten uns in simple Erklärungsmuster für Kursentwicklungen. Vor lauter schlechten Nachrichten stürzen wir uns auf die wenigen guten, die hervorstechen, und bewerten sie überproportional, bei anderen Aktien sehen wir nur das Negative, unsere Wahrnehmung ist selektiv. Panik auf der einen Seite und kurzfristige Euphorie auf der anderen, also etwa Ausverkauf bei den Tech-Werten und Großeinkauf bei Rüstungswerten ist die Folge.

Die Frage

Wut und Schmollen bringen uns nicht weiter. Realismus, dass es in dieser Situation keine Vermögensklasse der absoluten Immunisierung gibt, und ein klarer Kompass, dass die Beherrschung der Risiken vor der Gewinnerzielung steht, sind nun gefragt. Bei Homer durfte der tote Achill über ein Reich in der Unterwelt herrschen, doch er beklagte sich bei Odysseus, dass er lieber ein armer Tagelöhner auf der Welt als ein König bei den Toten wäre. Es gibt viele junge und leichtsinnige und viele alte und vorsichtige Piloten, aber keine leichtsinnigen alten Piloten. Akzeptieren wir den möglichen Paradigmenwechsel und versuchen nicht aus der Kurve zu fliegen. Die wahren Helden sind jene, die sich ihrer Verwundbarkeit bewusst sind – und überleben.
Der Text erschien zuerst im Nebenwerte-Journal

Norbert Betz, Leiter der Handelsüberwachung an der Börse München, setzt sich seit Jahren mit den Psychofallen an der Börse auseinander: als leidenschaftlicher Trader wie als distanzierter Marktbeobachter, als Referent (online und offline) und Autor.
Gemeinsam mit Ulrich Kirstein hat er Börsenpsychologie simplified, 2. Auflage 2015, erschienen im FinanzBuchVerlag, geschrieben. Für die Börse München außderdem das Booklet Psychofallen an der Börse. Wie wir sie erkennen und vermeiden. (2. Auflage 2021)