Psychologie und Ökonomie

Norbert Betz, Psychofallen an der Börse (1)
50, 70 oder gar 90 Prozent an der Börse seien Psychologie, heißt es. Also Fakten, ob aus der Fundamentalanalyse oder der Charttechnik gewonnen, verhelfen Anlegern nicht zu Erfolg, sondern ihr Verhalten, ihre Einstellung, ihre Wahrnehmung. Anders ausgedrückt: Alles Wissen und alle Hilfestellung nützen nichts, wenn man sie nicht zum richtigen Zeitpunkt richtig anwendet. Die menschliche Psyche ist für den Börsenhandel nicht ausgerichtet - deshalb muss man ihr manches Schnippchen schlagen, um nicht blind in Börsenfallen zu tappen. Wir geben hier ein kleines 1x1 der Börsenpsychologie in loser Folge.
Auch wenn es hier um Psychofallen an der Börse geht, müssen wir uns zu Beginn einmal ganz allgemein mit menschlichen Prozessen der Erkenntnisgewinnung und -verarbeitung befassen. Wir verschreiben uns nicht von Kopf bis Fuß der Ökonomie – zum Glück, denn sonst würde „Börse“ gar nicht funktionieren. Sie lebt von Emotionen. Es war die Anlegerlegende André Kostolany, der auf 90 Prozent Psychologie plädierte. Deshalb geht es in unserer kleinen Reihe viel um unsere Emotionen, Einstellungen und wie wir überhaupt Entscheidungsprozesse steuern, soweit wir sie steuern.
 
Selbstverständlich ist es nicht, dass psychologische Faktoren in die ökonomischen Betrachtungsweisen Eingang gefunden haben. Lange ging die Wissenschaft davon aus, dass der Mensch streng rational handelt, wenn es um Finanzthemen geht. Deshalb konnten Rechenmodelle angewandt werden – aber deren Ergebnisse stimmten oft nicht mit der erfahrenen Realität überein. Erfolg an der Börse lässt sich schon gar nicht ausrechnen. Ende des 19. Jahrhunderts befasste sich Gustave Le Bon in seinem Buch mit der „Psychologie der Massen“ – ein Werk, das beispielsweise Kostolany stark beeinflusste. 1910 ließ Willi Prion in „Preisbildung an der Wertpapierbörse“ persönliche Motive der beteiligten Anleger wie der Banken mit in seine Betrachtungen zu Börsenkursen einfließen und bezog insbesondere auch die Presse mit ein.

Forschungen zum Thema Behavioral Finance

Den Durchbruch in Deutschland brachte die 1958 gegründete „Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik“, dessen Gründer und Leiter Günter Schmölders 1966 sein Hauptwerk „Psychologie des Geldes“ veröffentlichte. Unter dem Begriff der Behavioral Finance setzt sich seitdem eine psychologische, überwiegend auf Experimente basierende Untersuchung der Märkte jenseits rein rechnerischer Modelle mehr und mehr durch.
 
Sehr viel Forschungsgelder und -interesse flossen in den letzten Jahrzehnten in die Neurowissenschaften, die Hirnforschung, nicht zuletzt befeuert durch den Einsatz technischer Hilfen zur Erforschung der Gehirnströme wie etwa die Magnetresonanztomografie. So versucht die Neurofinance, die Erkenntnisse aus der Psychologie auf neuronaler Basis zu entschlüsseln und mit Marketing und Ökonomie zu verknüpfen. Die Informationsaufnahme und -verarbeitung durch das menschliche Gehirn liegen im Zentrum des Forschungsinteresses, gestützt auf messbaren Ergebnissen. Unsere Abbildung 1 versucht die Zusammenhänge der einzelnen Forschungszweige aufzuzeigen:

Quelle: Der Interdisziplinäre Ansatz von Neuroökonomie und Neuromarketing, nach H.H. Bauer et al: Neuromarketing - Revolution oder Hype im Marketing?, Mannheim 2006
Trotz der faszinierenden Ergebnisse dieses noch jungen Forschungszweiges muss festgestellt werden, dass die Hirnforschung noch immer am Anfang ihrer Möglichkeiten steht, obwohl sich weltweit viele Forscher damit befassen und immer leistungsfähigere Geräte zum Einsatz kommen. Man schätzt, dass wir nur etwa 60 Prozent des Feinaufbaus des menschlichen Gehirns heute tatsächlich kennen. Nur eines ist inzwischen sicher: Ein Gehirn funktioniert nicht wie ein Computer, es ist nicht fest verdrahtet, sondern es stellt permanent neue Verbindungen, Synapsen, her. Das bedeutet, dass der Mensch durchaus lebenslang lernen kann – und in den heutigen Zeiten ja auch muss. Man sollte sich nicht darauf verlassen, dass das in Zukunft die Künstliche Intelligenz übernimmt.

„Wir sind kein System mit Fehlern, wir sind ein System von Fehlern“

Die Quintessenz könnte deshalb lauten: Märkte folgen nicht allein ökonomischen oder gar mathematischen Gesetzen, wie es die Theorie der effizienten Märkte beschreibt, sondern auch menschlichen, sprich biologischen Regeln, denn sie sind ein Produkt biologischer Evolution. So beschrieb es auch Prof. Andres W. Lo in „Adaptive Markets“ 2017: „Wir sind kein System mit Fehlern, wir sind ein System von Fehlern“, bringt er es auf den, nicht sehr beruhigenden, Punkt.
Fehler aber darf man nicht negieren und unter den Teppich kehren. Fehler gilt es zu benennen, zu analysieren und damit möglichst nicht zu wiederholen. Oder noch besser: Aus den Fehlern anderer soweit lernen, dass man sie selbst nicht mehr zu machen braucht. So freue ich mich über jeden Fehler, den Sie nicht machen – weil er mir bereits unterlaufen ist.
 
Die Fehler basieren zum einen darauf, dass wir schon bei der Aufnahme von Informationen versagen und zum anderen bei der Entscheidungsfindung. Ersteres ist in Heuristiken begründet, die wir anwenden, um zu überleben. Und die heute noch so funktionieren, wie vor tausenden von Jahren… Deshalb geht es im nächsten Teil um diese Heuristiken!
Norbert Betz, Leiter der Handelsüberwachung an der Börse München, setzt sich seit Jahren mit den Psychofallen an der Börse auseinander: als leidenschaftlicher Trader wie als distanzierter Marktbeobachter, als Referent (online und offline) und Autor.
Gemeinsam mit Ulrich Kirstein hat er Börsenpsychologie simplified, 2. Auflage 2015, erschienen im FinanzBuchVerlag, geschrieben. Für die Börse München außderdem das Booklet Psychofallen an der Börse. Wie wir sie erkennen und vermeiden. (2. Auflage 2021)