Dr. Georg von Wallwitz / Bild: Eyb & Wallwitz
In China verzeichnen die Börsen dieser Tage erst Rekordverluste, dann Rekordgewinne. Das führ uns zu der Frage, wie rational die Märkte und ihre Teilnehmer überhaupt sind. So viel vorweg: Die Antwort fällt ernüchternd aus.
Laut Sigmund Freud unterliegt das menschliche Bewusstsein einem einfachen, aber fatalen Irrglauben, nämlich der naiven Vorstellung „Herr im eigenen Haus zu sein“. Für Freud ein folgenschwerer Fehler, denn statt Vernunft und Rationalität sieht er vor allem unsere Gefühle und das Unbewusste hinter dem Lenkrad des menschlichen Willens sitzen. Ein Blick auf die aktuelle Situation an den chinesischen Finanzmärkten reicht, um diese These zu bestätigen. So raste zum Beispiel der Kurs der
Tencent-Aktie zwischen dem 9. und 15. März um etwa 25 Prozent nach unten (50,75 auf 38,15 USD) nur um am 16. März wieder auf einen Wert von 52,60 USD zu springen. Grund: Das in Staatsmedien verbreitete Gerücht über eine mögliche Regulierung, die erst einen Dominoeffekt nach unten und dann eine harte Kurskorrektur nach oben zu Folge hatte. Doch damit nicht genug: Als der chinesische Tech-Konzern eine Woche später seine Geschäftszahlen für 2021 veröffentlichte, brach der Kurs erneut ein und springt seitdem nervös hin und her. Wankelmut, der dem weit verbreiteten Klischee des Anlegers als Fleisch gewordenem Homo Oeconomicus und kühl kalkulierenden Rationalisten eigentlich widerspricht. Nicht aber den Theorien der Verhaltensökonomie.
Preisgekrönte Psychologen
Anders als es häufig nahegelegt wird, sind die Wirtschaftswissenschaften nämlich weit davon entfernt, den Menschen allein auf seine Rationalität und Eigeninteressen zu reduzieren. Vielmehr zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass die Disziplin seit einigen Jahrzehnten vorwiegend damit beschäftigt ist, irrationale Verhaltensweisen zu beschreiben und in ihre Modelle zu integrieren. Ein Psychologe, der dafür sogar den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, ist Daniel Kahneman. Bereits in den 70er Jahren etablierte er mit seiner Arbeit zahlreiche psychologische Konzepte, die heute zum Kanon der Verhaltensökonomie gehören – ob kognitive Verzerrung, begrenzte Rationalität, begrenztes Wissen oder etwas später die Unterscheidung in schnelles und langsames Denken. Ebenfalls mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde der Verhaltensökonom Richard Thaler, der sich ähnlich wie Kahneman mit Anomalien der Rational Choice Theory und der Ineffizienz von Märkten beschäftigt hat. Dank Kahneman und Thaler wissen wir heute, dass auch Anleger nicht davor gefeit sind, auf die Tücken ihrer Psyche hereinzufallen – in der Fachsprache auch „Bias“ genannt.
It’s the psychology, stupid!
Schlägt man ein beliebiges Buch (1) zu Behavioral Finance auf, so findet man eine ganze Reihe dieser Bias. Für Anleger am wichtigsten dürften wohl der Ankereffekt, die Verlustaversion, der Home Bias, der Self-Serving Bias und das Phänomen des Mental Accountings sein. Beim Ankereffekt geht es darum, dass sich Anleger bei Kaufentscheidungen häufig an Anker-Werten orientieren, die für den relevanten Sachverhalt eigentlich gar keine Rolle spielen. So etwa, wenn sie den Einstandspreis eines Assets zum Kriterium ihrer Entscheidung machen, obwohl das für die Bewertung des Kurspotentials keine Rolle spielt. Anders ist die Lage im Falle einer Verlustaversion. Bei diesem Phänomen werden verlustreiche Aktien zu lange gehalten und Gewinnaktien zu schnell verkauft. Der Grund: Verluste wiegen emotional schwerer als gleichwertige Gewinne, weshalb Anleger die Realisation ihrer Verluste häufig aufzuschieben versuchen. Dabei hegen sie die riskante Hoffnung, bei einem Kurswechsel doch noch in die Gewinnzone zu kommen – häufig unbegründet. Die Gewinnaktie bewerten sie dagegen deutlich risikoaverser, weshalb sie potenziellen Kurseinbrüchen zuvorkommen wollen und verfrüht verkaufen – ebenfalls häufig unbegründet.
Home is where your Heart is
Der Umstand, dass bei der Bewertung von Verlust- und Gewinnaktien zwei unterschiedliche Maßstäbe zur Anwendung kommen, ist ebenfalls ein bekannter Bias. In der Forschung wird er als Mental Accounting bezeichnet. Danach führen Menschen verschiedene mentale Konten, in die sie ihre Entscheidungen und Projekte einteilen. Das Problem: Diese Konten können unter völlig verschiedenen Prämissen geführt werden, was wiederum völlig inkonsistente Entscheidungen nach sich zieht. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der „Januar-Effekt“, also das Phänomen, dass sich Anleger zu Jahresbeginn anders verhalten als sonst. Der Grund: Zusammen mit ihren Neujahresvorsätzen eröffnen sie auch neue Mental-Konten, was zu einer Neubewertung ihrer Positionen führt. Ein solches Konto unterhalten viele Anleger auch, wenn es um ihre Heimatmärkte geht. Nur logisch, denn nirgends kennt man sich besser aus als in der heimischen Wirtschaft. Doch zahlreiche Studien zeigen: Der Home Bias führt zu irrationalen Investments und starker Selbstüberschätzung.
This time it’s different…
Folgt auf den Hochmut des Home Bias ein harter Absturz im Portfolio, kommt mit dem Self-Severing-Bias ein weiterer Denkfehler hinzu. Der Grund: Anders als Erfolge, die stets dem eignen Können zugeschrieben werden, haben Fehlinvestments bei selbstbewussten Anlegern für gewöhnlich nur eine Ursache: Externe Ereignisse. Dabei wusste schon Herman Gerland, der legendäre Dauer-Co-Trainer des FC Bayern München: „Immer Pech ist Unvermögen“. So werden die „Ereignisse“ gerne als Begründung genommen, um Verlustpositionen glattzustellen. Doch für viele Anleger ist das egal, denn selbst wenn das eigene Fehlverhalten zu herben Einbußen führt, fühlt es sich noch immer besser an, als dem eigenen Absturz untätig zusehen zu müssen. Und da Gefühle nun mal deutlich schneller sind als ausgeruhte Überlegungen, entscheiden sie im schnelllebigen Börsen-Alltag häufig, wohin die Reise geht. Aktionismus statt gefühlter Kontrollverlust. Ein Phänomen, das – wenn es ganze Gruppen von Anlegern befällt – sehr gefährliche Ausmaße haben kann. So etwa im Frühjahr 2021 beim historischen Short Squeeze der
Gamestop-Aktie. Doch auch im kleineren Maßstab ist diese Art des Herdenverhaltens regelmäßig an den Börsen zu beobachten.
Auch Wissen schützt vor Bias nicht
Die Liste der psychologischen Anleger-Fallen ließe sich noch lange weiterführen. Teilweise auch mit einer erstaunlichen Evidenz, denn die Studienlage ist mittlerweile sehr umfangreich. Komisch nur, dass all das Wissen um die eigene Fehlbarkeit bisher kaum etwas an dem Verhalten der Anleger geändert hat. Doch woran liegt die Lernresistenz der Anleger? Richtig: In ihrer Selbstüberschätzung sowie dem weit verbreiteten Bestätigungsfehler. Der ist dafür verantwortlich, dass Informationen, die nicht zum eigenen Weltbild passen, unbewusst ausgeblendet werden, während jeder Strohhalm, der die eigenen Überzeugungen bestätigt, freudig umklammert wird. Ein Phänomen, das schon Sigmund Freud seinen Zeitgenossen attestierte, als er mit seiner These vom Primat des Unbewussten auf harsche Kritik stieß. Die Ursache dieser Kritik sah er allerdings nicht in seiner Arbeit, sondern der Eigenliebe seiner Kollegen, die sich durch den Vorwurf „nicht Herr im eignen Haus zu sein“ gekränkt fühlten. Klar, Fehler machen immer nur die Anderen. Ein Bias vor dem nicht nur Anleger, sondern auch Psychologen nicht gefeit sind.
(1) Ein "beliebiges Buch" muss es gar nicht sein, man könnte zum Beispiel zu Börsenpsychologie simplified von Norbert Betz und Ulrich Kirstein greifen, 2. Auflage 2015. Anmerkung der Börse München!
Dr. Georg von Wallwitz ist der ungewöhnlichste Geldverwalter des Landes. So zumindest hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihn bezeichnet. Warum? Er hat mit
Eyb & Wallwitz nicht nur eine erfolgreiche Fondsgesellschaft gegründet, sondern nebenbei auch vier von der Kritik hoch gelobte Bücher geschrieben, in denen er Ökonomie und Kapitalmärkte mit Philosophie und beißendem Humor verbindet. Bei Eyb & Wallwitz rief er den von Morningstar mit fünf Sternen ausgezeichneten
Phaidros Funds Balanced ins Leben. Sein jüngstes Buch heißt “
Die große Inflation. Als Deutschland wirklich pleite war.”