Wie geht es nach dem ESG-Hype weiter?

Dr. Rupini Deepa Sobottka, Berenberg
Dr. Rupini Deepa Sobottka / Bild: Berenberg
"Die ESG-Party ist vorbei. Die ESG-Blase ist geplatzt. ESG ist tot“. Schlagzeilen, die den Untergang von ESG-Investitionen verkünden, sind ebenso vielfältig wie die Metaphern, die zur Beschreibung des angeblichen Zusammenbruchs verwendet werden. Aber geben diese pauschalen Aussagen die ganze Wahrheit wieder? Oder ist das Rational für die Berücksichtigung von ESG-Faktoren bei Anlageentscheidungen überzeugend genug, um dem aktuellen und künftigen Gegenwind standzuhalten?

Vergangenes Momentum und aktueller Gegenwind

In den letzten Jahren haben ESG-Investitionen ein deutliches Wachstum erfahren. In den Jahren 2020 und 2021 gab es einen regelrechten Hype um ESG: Vermögensverwalter legten nachhaltige Produkte auf, indem sie entweder neue Fonds und Strategien einführten oder bestehende Portfolios nach ESG-Grundsätzen umgestalteten, während das Kundeninteresse stark anstieg und die Mittelzuflüsse in neue Höhen trieb. Auf gesellschaftlicher Ebene verdeutlichte die Pandemie die Fragilität unserer ökologischen und sozialen Ökosysteme und motivierte Bemühungen um eine nachhaltige Erholung nach der Pandemie, die auf eine grünere Zukunft ausgerichtet war.  
 
Im Laufe der Zeit begannen sich jedoch die Prioritäten zu verschieben, insbesondere nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Frühjahr 2022. Die unmittelbare Energiesicherheit bekam Vorrang vor der langfristigen Energiewende, Ausstiegstechnologien (z. B. die Kernenergie in Deutschland) rückten wieder in den Fokus und selbst Investitionen in Verteidigung und Waffen wurden in einem nachhaltigen Rahmen neu diskutiert. In der Zwischenzeit wurde die regulatorische Landschaft durch Maßnahmen wie die Verordnung über die Offenlegung nachhaltiger Finanzprodukte (Sustainable Finance Disclosure Regulation - SFDR) immer komplexer, was bei Unternehmen, Investoren, Beratern und Kunden oft zu Verwirrung und Frustration führte. Gleichzeitig gewann in den USA eine Anti-ESG-Bewegung an Schwung, als Teil derer mehrere Bundesstaaten versuchten zu verhindern, dass ESG-Faktoren die Investitionen staatlicher Pensionsfonds beeinflussen.

Ein Blick hinter die Schlagzeilen

Auf den ersten Blick scheint die jüngste Entwicklung der Mittelzuflüsse und -abflüsse aus nachhaltigen und ESG-Fonds das Narrativ vom ESG-Rückgang zu bestätigen. Laut Morningstar kam es im letzten Quartal 2023 erstmals global zu Nettoabflüssen bei nachhaltigen Fonds. Dieser Trend hat sich jedoch umgekehrt, und das Gesamtvermögen nachhaltiger Fonds hat seitdem neue Höchststände erreicht, wenn auch deutlich langsamer als in den Vorjahren. Bei näherer Betrachtung zeigen sich regionale Unterschiede: Die Abflüsse wurden durchweg von Nettoverlusten in den USA getrieben, während Europa stetige Nettozuflüsse verzeichnete und in den ersten drei Quartalen 2024 37 Milliarden US Dollar in nachhaltigen Fonds anziehen konnte.
 
Darüber hinaus ist es wichtig, zu unterscheiden, ob Fonds aufgrund eines allgemeinen Trends in der gesamten Anlageklasse Vermögenswerte verlieren oder ob sich die Anleger aktiv von ESG- und nachhaltigen Produkten trennen. Jüngste Zuflüsse in nachhaltige Aktienstrategien konnten nicht mit Zuflüssen in die breite Anlageklasse Schritt halten, während nachhaltige Rentenfonds inmitten einer allgemeinen Umschichtung in die Anlageklasse stärkere Zuflüsse verzeichnen konnten.
 
Das Verständnis von Trends im Bereich des nachhaltigen Investierens wird zusätzlich dadurch erschwert, dass es keine klare und allgemein akzeptierte Definition von „nachhaltigem“ oder „ESG-Investieren“ gibt. Der deutsche Fondsverband BVI beispielsweise kategorisiert Fonds auf der Grundlage ihrer SFDR-Klassifizierung und bezeichnet Fonds der Artikel 8 oder 9 als „Fonds mit Nachhaltigkeitsmerkmalen“, während Morningstar Fonds als „nachhaltig“ einstuft, wenn Nachhaltigkeit laut Prospekt explizit im Mittelpunkt ihres Anlageprozesses steht.
 
Auch wenn sich die Aufmerksamkeit in letzter Zeit von nachhaltigen und ESG-Faktoren als primärem Verkaufsargument für Finanzprodukte wegbewegt hat, bleiben die globalen Herausforderungen, die ursprünglich den Anstoß für die Integration von ESG-Faktoren gegeben haben - wie Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt und andere - unabhängig von sich wandelnden Markttrends bestehen. Asset Owner, insbesondere in Europa, sind sich dieser Realität bewusst. Laut einer LSEG-Umfrage aus dem Jahr 2023 gaben 73 Prozent der europäischen Pensionsfonds an, dass der Klimawandel im Jahr 2023 eine Investitionspriorität darstellt, verglichen mit 53 Prozent der amerikanischen Fonds. Darüber hinaus ergab eine kürzlich durchgeführte Morningstar-Studie, dass 67 Prozent der Vermögensverwalter weltweit der Meinung sind, dass ESG-Überlegungen heute einen größeren Stellenwert in ihren Anlageprozessen haben als noch vor fünf Jahren.
 
Nicht nur Investoren wie wir haben Nachhaltigkeit im Blick, sondern auch Unternehmen beschäftigen sich im Jahr 2024 weiter damit. Laut einer Gartner-Umfrage sehen 69 Prozent der CEOs in der Nachhaltigkeit eine Wachstumschance, und eine EY-Umfrage ergab, dass 54 Prozent der Unternehmen der Nachhaltigkeit eine höhere Priorität einräumen als im Jahr zuvor. Allerdings bleibt die Priorisierung aus Unternehmenssicht uneinheitlich. In einer PwC-Umfrage äußerten CEOs Schwierigkeiten bei der Wertschöpfung aus klimabezogenen Chancen und Risiken, und eine Bain & Company-Umfrage zeigte, dass CEOs die Nachhaltigkeit manchmal zugunsten anderer dringender Themen wie KI-Fortschritte und geopolitische Bedenken zurückstellen.

Der Blick voraus

Aus den Entwicklungen bei Mittelzu- und -abflüssen in und aus nachhaltigen Fonds, den Perspektiven der Entscheidungsträger und den tieferen Diskussionen hinter den Schlagzeilen ergibt sich ein gemeinsamer Nenner: Die anfängliche Welle der ESG-Begeisterung ist abgeebbt, aber das zugrunde liegende Engagement für Nachhaltigkeit und nachhaltiges Investieren hält an, unterstützt durch Regulierung und verstärkt durch die Sichtbarkeit und die persönlichen Auswirkungen globaler Herausforderungen. Die Schlagzeilen, die den „Tod von ESG“ verkünden, mögen Aufmerksamkeit erregen, übersehen aber das Gesamtbild. Nachdem der anfängliche Hype abgeklungen ist, befinden wir uns in einem stabileren Umfeld, in dem sinnvolle Fortschritte bei nachhaltigen Investitionen möglich sind - mit dem Schwerpunkt auf der Identifizierung spezifischer und für Investition materieller ESG-Faktoren.
 
Für Anleger, die wirklich an nachhaltigen Investitionen interessiert sind, reicht ein „ESG-Stempel“ auf einem Produkt nicht mehr aus; sie suchen jetzt nach substanziellen Auswirkungen sowohl auf Anlageentscheidungen als auch auf die Unternehmenspraktiken und sind zu Recht misstrauisch gegenüber Greenwashing. Diesem Bedürfnis kann nur mit größerer Transparenz zur ESG-Integration in Finanzprodukten entsprochen werden. Die sich weiterentwickelnden ESG-Vorschriften werden die Arbeitsbelastung für Asset Manager und Vermögensverwalter wahrscheinlich kurzfristig weiter erhöhen, stellen aber auch eine Chance dar, vergangene Herausforderungen zu bewältigen, die Transparenz zu verbessern und die Branche in Richtung eines positiven Wandels zu führen.
 
Im Hype-Zyklus des nachhaltigen Investierens haben wir den Höhepunkt der überhöhten Erwartungen hinter uns gelassen, sind in die Ernüchterung eingetaucht, bewegen uns aber hoffentlich auf ein „Plateau der Produktivität“ zu. Diese Phase bietet die Chance, etabliertes neu zu bewerten, neu aufzustellen, und sinnvolle Wege zu finden, um nachhaltige Investitionen für die Zukunft wirkungsvoll zu machen.
Dr. Rupini Deepa Sobottka ist Head of ESG Office bei Berenberg