Eine der populärsten griechischen Sagen dürfte diejenige von Sisyphos sein, der Tag für Tag einen Felsbrocken mit vielen Mühen einen Berg hinaufrollt, der dann kurz vor dem Gipfel wieder ins Tal donnert. Dadurch haben die alten Griechen für ein so plastisches Bild für vergebene Liebesmüh gesorgt, dass es gerne als Sisyphosarbeit oder Sisyphosaufgabe zitiert wird. Wem ist es nicht schon passiert, dass die Plagen einer Stunde, eines ganzen Tages oder Jahres sich in Luft auflösten?
Das gilt im hohen Maße auch für die Kapitalanlage: Wie oft haben wir auf eine Aktie gesetzt, einen Hot Stock, einen garantierten Highflyer, und trat der Absturz ein, lange bevor der von so vielen Auguren versprochene Gipfel erreicht worden war? Und die es seither nie wieder schafften, unsere Erwartungen zu erfüllen?
Telekom,
Wirecard,
GameStop,
Coinbase,
CureVac. Sehr unterschiedliche Unternehmen und Ursachen und keinesfalls vergleichbare Ergebnisse, schließlich ist die Telekom ein treuer Dividendenzahler, so dass manch Anleger inzwischen auf seine Kosten gekommen sein dürfte (so manch Anlegerin selbstverständlich auch). Und während Wirecard eher mit einer ComRoad oder Enron zu vergleichen wäre, verknüpften sich mit Curevac große Hoffnungen, dass ein weiterer Corona-Impfstoff aus Deutschland kurz vor der Zulassung stünde. Aber, und das wurde vor lauter Euphorie gerne vergessen, die meisten Medikamente in der Entwicklung erleben ihre Marktreife nicht – auch ein Grund dafür, dass die Pharmaunternehmen so auf ihre Einnahmen aus dem Patentrecht pochen. Die wenigen Blockbuster müssen über die vielen Nieten hinweghelfen.
Leben und wirken
Doch was sagt uns das für unser Anlageverhalten, auch wenn wir es nicht speziell auf Biotech-Aktien abgesehen haben, die, siehe oben, besonders schwer zu bewerten und zu beurteilen sind? Kehren wir noch einmal kurz zu dem Mythos von Sisyphos zurück. Wer war dieser Mann? Als König von Korinth sorgte der für seine Weisheit gerühmte Sisyphos für starkes Wachstum und Prosperität seiner Untertanen. Sein Vergehen: Er wollte möglichst lange leben und wirken. Mit Witz und Wagnis sprang er deshalb dem Tod, in der griechischen Mythologie als Thanatos mehr gefürchtet als verehrt, immer wieder von der Schippe. Zur Strafe wird er schließlich vom Götterboten Hermes höchstpersönlich in die Unterwelt geführt und muss besagten Felsblock auf ewig den Berg hinaufwälzen.
Erwartung und Enttäuschung
Allein an der Börse München werden fast 7.000 Aktien gehandelt. Dahinter stehen 7.000 Unternehmen mit ganz unterschiedlichen Geschäftsmodellen und Branchen, tätig aus mehr als 60 Ländern von Antigua bis Zypern. Und fast täglich komme neue hinzu, aus fernen und nahen Ländern, per Börsengang oder per Listing, dynamische Start-ups und traditionsreiche Familienunternehmen. Wir werden immer, ob durch eigene Analyse oder Empfehlungen Dritter, auf Werte hingewiesen, denen überproportionales Wachstum prophezeit wird. Anlegermagazine müssen wöchentlich berichten. Würden Sie lieber ein Magazin kaufen, in dem ausschließlich vor Gefahren gewarnt wird und nicht eher zu einem greifen, das voller möglicher Chancen steckt? Und um Chancen zu erkennen und wahrzunehmen, genau dazu ist die Börse da. Doch es gibt keine Erfolgsgarantie, Risiko ist die Schattenseite von Chance und nicht einmal wenn der Bund oder ein bekannter Investor beteiligt sind, sind Rückschläge ausgeschlossen, auch das zeigt das Bespiel CureVac. (Wobei wir in Klammern hinzufügen möchten, dass der Staat bei der Wahl von Aktien selten als Vorbild dienen sollte).
Glück und Strafe
Der große französische Schriftsteller Albert Camus hat Sisyphos einen Essay gewidmet, in dem er ihn als Meister des Absurden titulierte – denn Sisyphos packt immer wieder eine Aufgabe mit neuem Mut an, von deren Scheitern er bereits vorab weiß. Aber, Camus definiert Sisyphos als einen glücklichen Menschen, denn er nimmt „den Kampf gegen den Gipfel“ an. Die Entscheidung, nicht an der Börse zu handeln, weil wir es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht schaffen, das Optimum, den Gipfel der Wertsteigerung, zu erklimmen, führt in die Irre. Mit Selbstdisziplin und Arbeit (in Form von Information, Strategie, Planung, Diversifizierung) kommen wir dem Gipfel zumindest nahe – und einzelne Abstürze führen nicht zum Totalverlust, sondern sind Mahnung und Motivation für ein risikobewusstes Weitermachen. Der Stein muss rollen.
Der Text erschien leicht modifiziert im Nebenwerte-Journal
Norbert Betz, Leiter der Handelsüberwachung an der Börse München, setzt sich seit Jahren mit den Psychofallen an der Börse auseinander: als leidenschaftlicher Trader wie als distanzierter Marktbeobachter, als Referent (online und offline) und Autor.
Gemeinsam mit Ulrich Kirstein hat er
Börsenpsychologie simplified, 2. Auflage 2015 , erschienen im FinanzBuchVerlag, geschrieben und für die Börse München das Booklet
Psychofallen an der Börse.
Wie wir sie erkennen und vermeiden.