Brexit-Folgen für Unternehmen negativer als befürchtet

Michael Schmidt und Andreas Glunz, BCCG
Börse München mit Europaflagge/Bild: BBAG
Rund 100 Tage nach dem Brexit verspüren die meisten Unternehmen  negativere Auswirkungen des Brexits als von ihnen noch zu  Jahresbeginn befürchtet. Das zeigt eine aktuelle Umfrage von KPMG und der British Chamber of Commerce in Germany (BCCG) unter 93  Mitgliedsfirmen der BCCG. 80 Prozent dieser Unternehmen haben ihren Sitz in Deutschland, die übrigen im Vereinigten Königreich.
 
Für die "100 Tage Brexit"-Umfrage hat KPMG in Zusammenarbeit mit der British Chamber of Commerce in Germany (BCCG) 93 Mitgliedsunternehmen der BCCG im Zeitraum zwischen dem 23. März und dem 12. April 2021 zu ihren Erfahrungen mit dem Brexit befragt. Die befragten Unternehmen stammen ausschließlich aus Deutschland (80 Prozent) und Großbritannien (20 Prozent).
 
Als Ergebnis daraus ziehen die Unternehmen erste Konsequenzen. So hat sich eines von sechs befragten Unternehmen entschieden, den  Außenhandel mit UK ganz einzustellen. Um den zusätzlichen Belastungen beim Im- und Export zu entgehen, haben Unternehmen auch beschlossen, sich neue Lieferanten abseits des deutsch-britischen Korridors zu  suchen: 22 Prozent wollen zu Zulieferern aus anderen Ländern  wechseln, und weitere 13 Prozent ersetzen den Import durch lokale  Lieferanten. Nur noch weniger als ein Drittel der Befragten will im deutsch-britischen Korridor neue  Absatzmärkte und Produktchancen suchen (30 Prozent).

Ein deutliches Alarmsignal

Die aktuellen Ergebnisse sind ein deutliches Alarmsignal. Dass Unternehmen erwägen oder auch  entscheiden, Außenhandelsbeziehungen komplett einzustellen, zeigt eine weitere Eskalationsstufe im Zuge anhaltend ungelöster Probleme  zwischen beiden Ländern. Dass der Brexit zu heftigen  Handelseinbrüchen führen wird, haben wir als Handelskammer erwartet. Die jetzige Situation geht aber weit darüber hinaus. Uns erreichen zunehmend Anfragen britischer Unternehmen, die sich hierzulande ansiedeln wollen, um Geschäftsbeziehungen mit Deutschland weiter aufrecht erhalten zu können. Das ist aktuell offenbar die einzige Möglichkeit für weitere gegenseitige - wenn auch erst Mal reduzierte - Geschäftsbeziehungen.
 
Die Hälfte der Unternehmen verzeichnet seit Jahresbeginn einen  Umsatzrückgang im deutsch-britischen Geschäft, jedes vierte vermeldet sogar "starke" Umsatzeinbußen. Auch in puncto Profitabilität sind die Auswirkungen des Brexits deutlich: 44 Prozent der befragten Unternehmen erwirtschafteten seit dem 1. Januar 2021 nach eigenen Angaben Verluste bei ihren Geschäftsaktivitäten zwischen Deutschland  und Großbritannien, weitere 16 Prozent klagen sogar über ein "starkes" Ertragsminus.

Sinkendes Handelsvolumen seit 2016

Bereits seit dem Referendum in 2016 sinkt das Handelsvolumen zwischen Großbritannien und Deutschland rapide. Die Umsetzung des Brexits hat jetzt in den ersten 100 Tagen zu weiteren tiefgreifenden Umsatz- und Ergebniseinbrüchen wegen zusätzlicher Verwaltungskosten, Zölle und Abgaben sowie gestiegener Transportkosten geführt. Wegen der komplexen Regularien und
aufwändiger Formalitäten hat seit dem Brexit jedes vierte Unternehmen sogar freiwillig eine eigentlich vermeidbare Verzollung in Kauf genommen. Zugleich setzt sich der Trend des Austauschs von  Lieferanten im deutsch-britischen Korridor fort, was zu weiteren Handelsrückgängen führen dürfte. Da auch wenig neue Chancen gesehen werden, ist auch mittelfristig nicht mit einer Verbesserung zu rechnen.
Das waren noch Zeiten: Am 9. August 1961 übergringt Arthur Tandy, Head of the Mission of the United Kingdom für die EU-Mitgliedschaft, den formalen Antrag des Vereinigten Königreichs für eine Mitgliedschaft in der EU. Im Bild mit Christian Calmes, Secretary General of the Council of Ministers der EU. Damaliger Grund: Das Vereinigte Königreich fürchtete, wirtschaftlich den Anschluss an Europa zu verlieren.

Deutsch-britischer Handel weiter unter Druck

Bei der Bewertung des deutsch-britischen Außenhandels wird der Warentransfer als eine besondere Herausforderung betrachtet: Drei  Viertel aller befragten Unternehmen berichten von Schwierigkeiten  beim Warenverkehr von Großbritannien nach Deutschland und umgekehrt. Aber auch Dienstleistungen bereiten den befragten Unternehmen Schwierigkeiten. Themen wie Mitarbeiterentsendung und  Finanzdienstleistungen bezeichnen jeweils 60 Prozent der Befragten als Herausforderung, für knapp ein Drittel stellen Secondments und Mitarbeitereinsatz im jeweils anderen Land sogar eine "große Herausforderung" dar.
Hinweis: Die gesamten Ergebnisse der Umfrage "100 Tage Brexit - Zeit für ein Zwischenfazit" finden Sie unter diesem Link zum Download.

Michael Schmidt, Präsident der BCCG, und Andreas Glunz, Bereichsvorstand International Business bei KPMG Deutschland