Norbert Betz / Bild: BBAG
Eine der wohl bekanntesten griechischen Sagen ist die Geschichte von Ikarus. Mit seinen Flügeln aus Wachs kam er aus Übermut der Sonne zu nahe, seine Flügel schmolzen und er stürzte ab. Sehen wir einmal davon ab, dass je höher er geflogen, desto kälter es geworden wäre - Sagen halten sich nun einmal nicht an die Realität. Vielleicht erinnern wir aber daran, dass Ikarus gemeinsam mit seinem Vater Dädalus fliehen musste, weil ihn König Minos auf Kreta gefangen hielt. Warum? Weil Dädalus Theseus verraten hatte, wie er den Faden der Ariadne zur Flucht aus dem Labyrinth verwenden könne, wo Theseus feststeckte – aber das wäre schon wieder die nächste Sage. Aufgrund seiner Hilfsbereitschaft musste Dädalus also fliehen, so zumindest eine Version, und erfand dafür die genialen Flügel.
Warum ich an die alte Geschichte erinnere? Sie sagt uns zweierlei: Zum einen, dass die Jugend zu Leichtsinn neigt. Das ist ihr gutes Recht, kann aber böse ausgehen. Zum anderen, dass eine gute Tat oder Absicht nicht immer Gutes nach sich zieht. Dazu fällt uns in der derzeitigen Situation so einiges ein, von den Lockdown-Maßnahmen über die Maskenbeschaffung bis hin zur Impf- und Teststrategie. Hier war oftmals viel guter Willen, aber wenig zählbarer Erfolg zu erkennen und am Ende finden wir uns alle in einer Art Labyrinth ohne Ausgang wieder. Und niemand in Sicht, der uns Flügel verleiht, dem zu entkommen, nicht einmal die bekannte Brause. Eher im Gegenteil, gerade der Jugend werden derzeit die Flügel eher gestutzt.
Junge Anleger
Was mich aber mehr bewegt ist das Verhalten vieler junger Anleger oder zumindest das, was uns darüber kolportiert wird. Sie handelten aus altruistischen Motiven, indem sie wie weiland Robin Hood die bösen Reichen jetzt die bösen reichen Hedgefonds bekämpften. Aber schon Robin Hood gehört ins Reich der Fabeln. Außerdem handelten die jungen Anleger naiv und kurzfristig über Apps, mit hohem Risiko und wenig Wissen. Sie konzentrierten sich auf Hot Stocks in der Hoffnung auf schnelle und rasante Gewinne. Alles in allem sei ihr Handeln wohl nur ein Strohfeuer, aber noch lange nicht der erste Schritt hin zu einem dauerhaften Land der Aktionäre. So zumindest die Klischees, die wir lesen dürfen.
Zu stimmen scheint, dass viele junge Menschen sich dem Handel mit Wertpapieren zugewendet haben, worauf die Aktionärszahlen des Deutschen Aktieninstituts hinweisen. Einige haben sich über soziale Netzwerke zusammengeschlossen und Aktien wie GameStop nach oben gepusht. Doch die Gründe sind vielfältig: Nicht wenige glauben tatsächlich an die Werthaltigkeit dieser Aktie, andere wiederum halten sich für edel und gut. Einige haben einen guten Schnitt gemacht und andere (eher mehr) dürften sich die Finger verbrannt haben. Dass beim Handeln per App höhere Risiken eingegangen werden, darauf weisen Studien aus den USA hin, allerdings bezogen sie sich auf den dortigen Neobroker-Platzhirsch Robinhood, und dessen Benutzeroberfläche ist mit denjenigen deutscher Neobroker kaum vergleichbar.
Tatsächliche Favoriten
Aber wie sieht es eigentlich bei uns an der Börse München aus? Auch hier nahm der Wertpapierhandel 2020 und zu Beginn dieses Jahres deutlich zu. Junge Leute, die über „herkömmliche“ Onlinebroker handeln, dürften vermehrt darunter zu finden sein. Zwei Drittel aller Aktien werden aus dem Ausland gehandelt, an erster Stelle aus den USA, Kanada und Norwegen. Die meistgehandelten Aktien laut Orderbuchumsatz in den ersten knapp drei Monaten waren
Plug Power,
SunHydrogen und
NelAsa. Die meistgehandelte deutsche Aktie war die
Allianz! Übersetzt könnte man sagen, die Anleger interessieren sich sowohl für aktuelle Themen, wie Wasserstoff, aber sie setzen auch weiterhin auf Dividenden bringende Klassiker wie die
Allianz,
Daimler oder
BASF, die unter den deutschen Aktien die Spitzenplätze einnehmen. Und ja,
GameStop liegt tatsächlich auf einem der vorderen Plätze (genauer: Rang zehn unter den meistgehandelten Aktien). Im Übrigen, und das nur als Anmerkung, auch an unserem Börsenplatz gettex, an den viele Neobroker angeschlossen sind, ergibt sich kein anderes Bild, im Gegenteil, hier nehmen „klassische Titel“ einen noch breiteren Raum ein!
Die Jugend soll fliegen
Insofern wäre zumindest mein vorläufiges Urteil, dass junge Menschen eine neue Lust am Wertpapierhandel haben. Dabei kann es auch einmal zu Verwerfungen kommen, aber noch fliegt Ikarus seinem Vater Dädalus ziemlich brav hinterher, noch sind keine Anzeichen von Verbrennungen zu erkennen. Also, lassen wir die Jugend fliegen. Abstürze wird es geben. Aber je früher sie mit dem kalten Wasser in Berührung kommt, desto schneller lernt sie – und das kann ihr für die Zukunft nur von Nutzen sein. Und dass sie auch jenseits des Mainstreams handelt, kann gerade Nebenwerten nur zu Gute kommen – hier darf es gerne noch die eine oder andere Überraschung geben.
Und zuletzt, die Insel, auf der Dädalus seinen Sohn beisetzte, nannte er nach ihm Ikaria. Über die Jahrhunderte wurde diese schmale Insel vor der Küste Kleinasiens dann ausgerechnet als Verbannungsort genutzt, zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg für griechische Kommunisten. Mit der Folge, dass diese bis heute dort die Mehrheit stellen.
Norbert Betz ist Leiter der Handelsüberwachung der Börse München und Spezialist für das Thema Börsenpsychologie. Seit Jahren warnt er in Büchern und Vorträgen vor Börsenfallen aller Art.