Mike Glöckner, DJE Kapital AG

Zwischen AI-Angst und Boom: Risiken und Chancen

Der AI-Markt (AI steht für Künstliche Intelligenz) befindet sich in einer ausgeprägten Korrekturphase, die stellenweise zu überverkauften Situationen geführt hat. Nahezu täglich gibt es neue relevante Entwicklungen, doch die Schwäche bei AI-Werten – vor allem im Infrastruktursegment – hält an.

Mike Glöckner, DJE Kapital AG

Ein zentraler Belastungsfaktor bleibt die Einschätzung von DeepSeek, wonach effizientere Modelle künftig den Bedarf an AI-Hardware reduzieren könnten. Zudem fielen die jüngsten Quartalszahlen von NVIDIA zwar solide aus, aber sie erreichten nicht den Grad der Übererfüllung wie in den vorangegangenen Quartalen. Selbst NVIDIA konnte den angeschlagenen AI-Markt nicht stabilisieren. Ein weiterer wichtiger Belastungsfaktor ist die zu erwartende Verschärfung der US-Restriktionen unter der Trump-Administration. Diese verfolgt eine harte Linie im geopolitischen Wettbewerb mit China, wobei AI eine Schlüsselrolle im Ringen um wirtschaftliche, militärische und politische Vorherrschaft spielt.

Trotz US-Restriktionen scheint China weiterhin Zugang zu NVIDIA-Chips zu haben – sowohl zur Hopper-Architektur (H100, H200) als auch zu den neuesten Blackwell-Systemen, die seit dem letzten Quartal ausgeliefert werden. Dabei handelt es sich nicht mehr nur um einzelne Chips, sondern um komplette Serversysteme, bei denen NVIDIA einen größeren Umsatzanteil erzielt. Ein auffallend hoher Anteil dieser Systeme wurde Unternehmen in Singapur in Rechnung gestellt, bevor sie in andere Länder weitertransportiert wurden. Möglicherweise wird auf diesem Weg auch China beliefert. Für die US-Regierung stellt dies eine große Herausforderung dar, da es zunehmend schwieriger wird, die tatsächlichen Endabnehmer der AI-Systeme zu kontrollieren.

Die Trump-Administration dürfte die Exportrestriktionen für AI-Technologien weiter verschärfen. Gleichzeitig verstärken diese Maßnahmen Chinas Bestrebungen, eigene Chips zu entwickeln. Im Bereich älterer Halbleitertechnologien (14-28 nm) ist China bereits weitgehend unabhängig von Importen und produziert Chips für den Massenmarkt, nicht zuletzt für die Unterhaltungs- und Automobilindustrie. Schätzungen zufolge ist China zu etwa 35 Prozent unabhängig von Importen bei der Chipproduktion. In der Spitzenklasse moderner Halbleiter (2-5 nm), die für AI und High-Performance-Computing essenziell sind, liegt China jedoch noch Jahre hinter den USA zurück. Das Beispiel DeepSeek zeigt jedoch, dass technologische Rückstände schneller als erwartet aufgeholt werden können. 

Technologischer Fortschritt und strategische Bedeutung für China   

China treibt seine technologische Entwicklung mit Nachdruck voran. Eine Analyse des australischen Strategic Policy Instituts aus dem Jahr 2023 zeigt, dass das Land inzwischen in 57 von 64 Technologiebereichen bei der Patentregistrierung führend ist – ein deutlicher Anstieg gegenüber nur drei Bereichen im Jahr 2007. Präsident Xi Jinping setzt zudem gezielt auf die Stärkung des Technologiesektors: Bei einem kürzlichen Treffen mit Führungskräften von Unternehmen wie Alibaba, Xiaomi, Huawei, Tencent, DeepSeek und BYD wurde die zentrale Rolle der Branche für Chinas wirtschaftliche Zukunft hervorgehoben.

Laut Bloomberg Economics erreichte Chinas High-Tech-Sektor 2024 ein Volumen von 20,7 Billionen Yuan, was rund 15,4 Prozent des BIP entspricht. Bis 2026 soll dieser Anteil auf 18,3 Prozent steigen – womit die High-Tech-Industrie die Immobilienwirtschaft als wichtigsten Wirtschaftszweig ablösen könnte. Rechnet man Segmente wie Elektrofahrzeuge, Batterien und Solarenergie hinzu, könnte der Anteil sogar auf 23 Prozent steigen.

Xiaomi sorgt mit preislich attraktiven Modellen, die sich an Luxusmarken orientieren, für Aufmerksamkeit im Elektrofahrzeugmarkt. Zudem belegt das Unternehmen nach Apple und Samsung Platz drei im globalen Smartphone-Markt und betreibt mit über 861 Millionen vernetzten Geräten das weltweit größte AIoT-Netzwerk – ein System, das künstliche Intelligenz (AI) mit dem Internet of Things (IoT) verbindet, um intelligente und automatisierte Geräteinteraktionen zu ermöglichen. Der CFO von Xiaomi erklärte, dass das Unternehmen derzeit noch mit NVIDIA-Chips arbeitet, aber bereits nach Alternativen sucht - eine strategische Notwendigkeit angesichts der geopolitischen Spannungen. 

Massive Kapitalströme in den AI-Sektor

Die Investitionen in künstliche Intelligenz steigen weiter rasant an. Besonders Hyperscaler wie Amazon, Google und Microsoft treiben den Ausbau der AI-Infrastruktur mit hohen Kapitalaufwendungen voran. Für 2025 werden ihre CapEx-Ausgaben auf rund 320 Milliarden US-Dollar geschätzt - ein Anstieg von über 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Ein erheblicher Teil dieser Mittel fließt in den Ausbau der AI-Infrastruktur sowie die Weiterentwicklung leistungsfähigerer AI-Systeme.

Auch auf politischer Ebene wird AI zunehmend als strategische Schlüsseltechnologie betrachtet. Die Trump-Administration hat gemeinsam mit führenden Softwareunternehmen das 500 Milliarden Dollar schwere „Stargate“-Projekt angekündigt, die Europäische Union setzt mit dem 200 Milliarden Dollar schweren „AI-Act“ eigene Impulse. In Frankreich werden über private Investoren rund 100 Milliarden Dollar in KI-Projekte fließen und Meta plant den Aufbau eines 200 Milliarden Dollar schweren KI-Campus. Trotz aller Bedenken hinsichtlich einer möglichen Abkühlung bleibt die Investitionsdynamik im AI-Sektor unvermindert hoch.

Effizienzsteigerung als Wachstumstreiber: DeepSeek und das Jevons-Paradox

Das Jevons-Paradoxon, benannt nach dem britischen Ökonomen William Stanley Jevons, beschreibt das scheinbare Paradoxon, dass technologische Fortschritte in der Ressourceneffizienz nicht zwangsläufig zu einem geringeren Verbrauch führen, sondern im Gegenteil die Nachfrage erhöhen können.

Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Servervirtualisierung, die Anfang der 2000er Jahre eine effizientere Nutzung von Rechenkapazitäten ermöglichte - und paradoxerweise die Nachfrage nach leistungsstärkeren Servern inklusive Chips weiter steigen ließ. Das Aufkommen des Cloud Computing hatte ähnliche Auswirkungen: Durch die Möglichkeit, Serverinstanzen je nach Bedarf an- und abzuschalten, wurde die Ressourcennutzung optimiert, was die Nachfrage nach Hardware weiter ankurbelte.

Ein ähnlicher Effekt könnte nun im Bereich der künstlichen Intelligenz eintreten. Das von DeepSeek entwickelte KI-Modell verspricht eine effizientere Nutzung der Rechenleistung. Statt den Hardwarebedarf zu senken, könnte diese Effizienzsteigerung langfristig sogar die Nachfrage nach spezialisierter KI-Hardware erhöhen - ganz im Sinne des Jevons-Paradoxons.

Technologische Fortschritte: AI-Hardware und Software auf dem Vormarsch

Die Entwicklung hin zur allgemeinen künstlichen Intelligenz (AGI) basiert sowohl auf Fortschritten bei der Hardware als auch auf innovativen Softwareansätzen. Im Hardwarebereich hat die Hopper-Architektur von NVIDIA die Leistung beim KI-Training um den Faktor 10 gesteigert. Die neuere Blackwell-Architektur geht noch einen Schritt weiter: Sie ermöglicht eine 15- bis 30-fache Verbesserung bei der AI-Inferenz, also der Verarbeitung von Anfragen, und reduziert gleichzeitig den Energieverbrauch um den Faktor 25.

Auch im Bereich der Software sind bedeutende Fortschritte zu verzeichnen. Tests in Disziplinen wie Naturwissenschaften, Mathematik, Programmierung und Sprachen haben gezeigt, dass KI-Modelle bereits auf Doktorandenniveau agieren können. In diesen klar definierten, regelbasierten Aufgabenfeldern erreicht Künstliche Intelligenz somit annähernd menschliches Leistungsvermögen.
Dennoch bleiben wesentliche Einschränkungen bestehen: In Bereichen wie situative Anpassung, selbstständiges Lernen, Transferleistungen und Empathie bleibt KI noch weit hinter menschlicher Intelligenz zurück. 

Agentic AI und Physical AI: Fortschritte in Automatisierung und Robotik 

Agentenbasierte künstliche Intelligenz (Agentic AI) gewinnt zunehmend an Bedeutung. AI-Agenten übernehmen immer komplexere Aufgaben - von der automatisierten Beantwortung typischer Kundenanfragen über die Bestellabwicklung bis hin zur Optimierung von Geschäftsprozessen. Führende AI-Entwickler wie OpenAI, Google Gemini, Perplexity und DeepSeek haben inzwischen spezialisierte Deep-Search-Agenten entwickelt, die anspruchsvolle Problemstellungen mit hoher Präzision lösen können. Die Qualität generativer AI-Systeme hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert und wird mittlerweile als durchweg leistungsfähig bis exzellent eingestuft.

Ein weiteres wachsendes Innovationsfeld ist die Physical AI, auch Embodied AI genannt. Dabei wird künstliche Intelligenz in physische Objekte integriert, so dass diese mit den Gesetzmäßigkeiten der realen Welt interagieren können - zum Beispiel in selbstfahrenden Autos oder Robotersystemen. Diese Technologie, deren Entwicklung vor mehr als zwei Jahrzehnten begann, hat in jüngster Zeit große Fortschritte gemacht. Robotaxis sind inzwischen in mehreren Städten in den USA, China und der Golfregion im Einsatz, bald auch in Singapur. Die technologische Reife dieser Systeme nimmt rasch zu, und die führenden Anbieter zeigen kontinuierliche Verbesserungen bei Sicherheit und Funktionalität.

Auch im Bereich der Robotik ist der technologische Fortschritt beachtlich. Führende Hersteller gehen davon aus, dass humanoide Haushaltsroboter bereits in den nächsten zwei Jahren marktreif sein könnten. Schon heute werden humanoide Roboter in der Automobilproduktion sowie in Logistikzentren eingesetzt und optimieren dort Effizienz und Arbeitsabläufe. Die Kombination von Physical AI und fortgeschrittener Robotik könnte in den kommenden Jahren eine zentrale Rolle in der Automatisierung spielen. 

Korrekturphase mit langfristigem Potenzial      

Der AI-Markt befindet sich derzeit in einer Korrekturphase, die durch Unsicherheiten über die Rentabilität hoher Infrastrukturinvestitionen, geopolitische Spannungen und verschärfte Exportbeschränkungen der USA ausgelöst wurde. Gleichzeitig schreitet die technologische Entwicklung unvermindert voran. Fortschritte bei AI-Hardware und -Software, gerade in den Bereichen Agentic AI und Physical AI, treiben Innovationen voran und eröffnen neue Marktpotenziale.

Trotz temporärer Rückschläge bleibt die langfristige Perspektive des Sektors positiv. Nach wie vor werden erhebliche Investitionen in die Entwicklung effizienterer AI-Modelle und leistungsfähiger Hardware getätigt. Zudem haben sich AI-gestützte Anwendungen in vielen Branchen bereits etabliert und weisen ein anhaltendes Wachstum auf.

Die aktuelle Korrektur hat auch dazu geführt, dass einige Marktführer in den Bereichen AI-Chips, Chipfertigung, Speichertechnologien, Netzwerkausrüstung, Rechenzentrumsbau, AI-Plattformen und Softwarelösungen attraktiv bewertet erscheinen.

Mike Glöckner

Mike Glöckner ist Analyst für den Sektor Technologie bei der DJE Kapital AG. Die DJE Kapital AG gehört zur DJE-Gruppe und ist seit 1974 als unabhängige Vermögensverwaltung am Kapitalmarkt aktiv. Das Unternehmen aus Pullach bei München verwaltet mit rund 200 Mitarbeitern (davon rund 25 Fondsmanager und Analysten) aktuell über 16,0 Milliarden Euro (Stand: 30.09.2024) in den Bereichen individuelle Vermögensverwaltung, institutionelles Asset Management sowie Publikumsfonds. Zudem bietet DJE seit 2017 mit Solidvest eine einzeltitelbasierte Online-Vermögensverwaltung an – als digitale Lösung im Rahmen aktiv gemanagter Depots.


 

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