Europa: Neue Stärke durch Selbstständigkeit

In Europa entsteht eine neue Dynamik, die paradoxerweise schon immer da war. Das feiern die Märkte natürlich. Der MSCI Europe legte seit Jahresbeginn in Euro um 10 Prozent zu (15 Prozent in US-Dollar), während der amerikanische S&P 500 um über 3 Prozent nachgab. Das ergibt eine Differenz von 18 Prozent (in Dollar) in weniger als drei Monaten!
Historische Wende bei Verteidigungsinvestitionen
Wenn Europa „Great Again“ wird, ist das gewiss nicht unmittelbar dem amerikanischen Präsidenten zu verdanken. Er wurde nicht wegen dieses Programms gewählt, soviel ist sicher. Europa verdankt diese Dynamik in Wirklichkeit allein sich selbst: Sie beruht nämlich auf der Energie, die es aufbringt, um angemessene Konsequenzen aus dem antieuropäischen Sinneswandel der US-Politik zu ziehen – vor allem im militärischen Bereich. Unter dem Druck, mehr für seine eigene Verteidigung und die der Ukraine tun zu müssen, hat es in nur wenigen Wochen eine historische Wende vollzogen. So verabschiedete die Europäische Kommission Anfang März den „ReArm Europe“-Plan zur massiven Unterstützung der Rüstungsindustrie, der ein Volumen von 800 Milliarden Euro über vier Jahre haben dürfte. Sie lässt eine zusätzliche Verschuldung der nationalen Haushalte für Verteidigungsausgaben zu, die nicht den vertraglich vorgesehenen Grenzwerten unterliegt. Hinzu kommt die Initiative Deutschlands, die vom Grundgesetz vorgesehene Schuldenbremse abzuschaffen, die lange Zeit als sakrosankt galt. Zusammen mit einem Unterstützungsplan für Infrastruktur (500 Milliarden Euro) könnten sich die zusätzlichen Ausgaben Deutschlands auf insgesamt 1,5 Billionen Euro über zehn Jahre belaufen.
Europäische Wachstumsprognose nach oben korrigiert
All das könnte über mehrere Jahre ein Plus von 0,5 bis 1 Prozent für das europäische BIP bedeuten, vor allem dank der Entwicklungen in Deutschland. Gleichzeitig werden die Prognosen für das Wachstum in den USA nach unten korrigiert, da es von dem Vertrauensverlust der privaten Haushalte und der Industrie gebremst wird. Zurückzuführen ist dieser auf die instabile Handelspolitik des neuen Präsidenten. Einige Analysten rechnen für 2026 sogar mit einem europäischen Wachstum, das über dem der USA liegt, was vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbar gewesen wäre.
Unter der Devise: Abhängigkeiten reduzieren
Im Zuge der Bemühungen um die Selbstständigkeit Europas auf den Druck von außen hin werden zudem einige Branchen neu bewertet. Das gilt beispielsweise für den strategischen Bereich der Zahlungskarten. Die erdrückende Dominanz der US-Unternehmen Visa und MasterCard wirft allmählich Fragen auf. Mittlerweile werden rein europäische Netze von den lokalen Institutionen unterstützt. Hierzu gehören das Netz der CB-Karten oder die Lösung Wero, die vom Comité National des Moyens de Paiement in Frankreich gefördert werden. Im Bereich der Raumfahrt hat die Europäische Kommission Ende 2024 das Programm Iris gestartet, dessen Aufgabe es ist, ab 2030 292 Satelliten in die Umlaufbahn zu schicken. Damit soll letztendlich die Abhängigkeit von den amerikanischen Netzen verringert werden, insbesondere von Starlink, das von Elon Musk kontrolliert wird, oder Kuiper, das dem Amazon-Chef Jeff Bezos gehört. Die neue europäische Trägerrakete Ariane 6, die für diesen Plan unverzichtbar ist, hat gerade erfolgreich ihren ersten kommerziellen Flug absolviert.
Deutschland als letztes Finanzpolster Europas
Dank der Neuen Welt erwacht die Alte – doch ist das alles nur Wunschdenken? Die angekündigten Maßnahmen weisen immer noch einige Schwachstellen auf. Das gilt insbesondere für die Finanzierung. Deutschland ist das letzte große Land der Eurozone, das seine Verschuldung noch massiv erhöhen kann. Die anderen großen Staaten – Frankreich und Italien – befinden sich bereits an der Grenze des Tragbaren. Die deutschen Pläne bilden also das letzte Finanzpolster Europas. Wenn es aufgebraucht ist, gibt es auf Ebene der Nationalstaaten keine weiteren Möglichkeiten mehr für massive Schulden. Zudem bleibt Europa trotz dieser verschiedenen Pläne ein Zwerg im digitalen Bereich. Auf dem europäischen Kontinent findet man keine Entsprechung der amerikanischen oder chinesischen Technologieriesen. Die ersehnte Selbstständigkeit kann das Weiße Haus nicht erschüttern. In diesem Punkt wird man Trump nichts vormachen können. Dennoch wird die europäische Reaktion im Hinblick auf Wachstum und Beschäftigung sowie auf die Finanzmärkte spürbare und dauerhafte Auswirkungen haben. Danke, Mister President, auch wenn Sie so viel gar nicht verlangt haben.
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